Tempo 120 auf der Autobahn
faktenfinder

Irreführende Grafik im Umlauf Tempolimit sorgt nicht für mehr Verkehrstote

Stand: 19.08.2024 07:45 Uhr

In den sozialen Netzwerken ist eine Grafik unterwegs, die suggeriert, dass es in Ländern mit Tempolimit mehr Verkehrstote auf Autobahnen gäbe als in Deutschland. Die Zahlen sind jedoch aus dem Zusammenhang gerissen.

Von Laura Bisch und Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

Auf X, früher Twitter, taucht aktuell eine Grafik auf, die die Zahl der Verkehrstoten in verschiedenen europäischen Ländern in Verhältnis zum Tempolimit vergleicht. Das vermeintliche Ergebnis: In den Vergleichsländern Polen, Griechenland, Belgien und Österreich sterben angeblich trotz Tempolimit auf Autobahnen in Relation mehr Menschen im Verkehr als in Deutschland - in einem Land ohne pauschales Tempolimit. Doch das ist aus mehreren Gründen irreführend.

Die Grafik wurde von mehreren Nutzern als Reaktion auf ein Posting der Deutschen Umwelthilfe (DUH) kommentiert. Im Ursprungsposting fordert die Umweltschutzorganisation, Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) solle ein Tempolimit einführen, um Unfalltote auf Autobahnen künftig zu vermeiden.

Die Grafik, die Nutzer etwa mit den Worten "Was für ein Unsinn" unter der Forderung platzierten, ist nicht neu. So tauchte die Grafik bereits vor einigen Jahren auf, "Correctiv" berichtete darüber - und auch beim ARD-faktenfinder war die Falschbehauptung, deutsche Autobahnen seien die sichersten der Welt, schon mal Thema.

Zahlen richtig - aber in falschem Zusammenhang

Dementsprechend sind die Zahlen, die für die Grafik verwendet wurden, nicht mehr aktuell. Eine Bilderrückwärtssuche zeigt, dass zum Beispiel auf dem Facebook-Konto der CSU diese Grafik bereits im Februar 2020 verbreitet wurde. Auf der Grafik steht, dass es in Deutschland 3,8 Verkehrstote pro 100.000 Einwohner gebe. Nach Angaben der EU-Kommission waren es im Jahr 2023 jedoch 3,4.

Ein Screenshot der Seite facebook

Die irreführende Grafik wurde bereits vor Jahren unter anderem von der CSU verbreitet.

Insgesamt starben 2023 in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamts (Destatis) 2.839 Menschen im Straßenverkehr, in Relation zu den Einwohnern deckt sich das mit der Zahl der EU. Auch die Zahlen für die anderen Länder, die in der Grafik angeführt werden, sind veraltet.

Allerdings beziehen sich diese Zahlen ohnehin nicht ausschließlich auf Unfalltote auf Autobahnen, wie der Zusammenhang mit dem Verweis auf das Tempolimit in den jeweiligen Ländern suggeriert. Von den 2.839 Verkehrstoten in Deutschland starben laut Destatis 302 Menschen auf Autobahnen. Innerorts kamen demnach 902 Menschen im Verkehr ums Leben - auf Straßen außerhalb von Ortschaften ohne Autobahn 1.635. Vermischt man diese Zahlen, kann man sie nicht mehr ins Verhältnis zu einem Tempolimit auf Autobahnen setzen.

Hinzu kommt, dass auch in Deutschland nicht alle Autobahnabschnitte ohne Tempolimit sind. Bei etwa 70 Prozent der Strecken gilt keine Geschwindigkeitsbegrenzung, bei gut 23 Prozent gibt es ein generelles Tempolimit. Bei den restlichen knapp sieben Prozent gibt es ein flexibles Tempolimit zum Beispiel bei bestimmter Verkehrslage oder Witterung.

Selektive Auswahl der Vergleichsländer

Zudem sind die Länder, mit denen Deutschlands Verkehrstote in der Grafik verglichen werden, sehr selektiv ausgewählt und erwecken den Eindruck, Deutschland habe die wenigsten Verkehrstoten im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Zwar liegt Deutschland mit 3,4 Verkehrstoten pro 100.000 Einwohnern unter dem EU-weiten Durchschnitt von 4,6 - doch mehrere Staaten, darunter Nachbarländer wie die Schweiz (2,2) oder Dänemark (2,7), stehen dahingehend noch besser da.

Der prozentuale Anteil der Verkehrstoten, die auf der Autobahn ums Leben kamen, liegt in Deutschland mit elf Prozent zudem leicht über dem EU-Durchschnitt von neun Prozent. Während der Anteil in Belgien in diesem Fall noch höher ist mit 16 Prozent, liegen Polen (3 Prozent), Österreich (8 Prozent) und Griechenland (6 Prozent) zum Teil deutlich darunter.

Wie viele Tote pro Autobahnkilometer?

Hinzu kommt, dass laut Wulf-Holger Arndt, Bereichsleiter "Mobilität und Raum" an der Technischen Universität Berlin (TU Berlin), das Verhältnis der Verkehrstoten zur Einwohnerzahl als Maß wenig Sinn ergibt. Vielmehr seien die gefahrenen Kilometer eine sinnvolle Basis, um die Verkehrstoten auf Autobahnen zu vergleichen. Denn so könne auch einkalkuliert werden, wie stark die Autobahnen in den jeweiligen Ländern genutzt werden - schließlich sind die Verkehrsnetze der verschiedenen Staaten sehr unterschiedlich.

Daten hierfür von der Bundesanstalt für Straßenwesen für das Jahr 2020 zeigen, dass Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern im vorderen Mittelfeld rangiert. So starben demnach 1,48 Menschen pro einer Milliarde Fahrzeugkilometer auf der Autobahn. In Österreich sind es mit 1,28 Menschen etwas weniger, ebenso zum Beispiel in Dänemark (0,91) und den Niederlanden (0,90). In Frankreich (1,56) und Italien (3,18) sind es hingegen mehr. Für viele Länder liegen keine Daten dazu vor.

Anders ist es beim Verhältnis der Verkehrstoten pro 1.000 Kilometer Autobahn. Nach Angaben der EU-Kommission starben in Deutschland im Jahr 2022 23,8 Menschen pro 1.000 Kilometer Autobahn. Damit liegt Deutschland im europäischen Vergleich im Mittelfeld. Von den auf der Grafik angegebenen Vergleichsländern stehen Griechenland und Österreich besser dar mit 17,2, Polen deutlich schlechter mit 35,5 Verkehrstoten. Bei mehreren Ländern wie Irland, Estland oder Norwegen sind es sogar weniger als zehn Verkehrstote pro 1.000 Kilometer Autobahn.

Tempolimit ein Faktor von vielen

Insgesamt zeigen die verschiedenen Daten, dass das Tempolimit allein nicht der einzige Indikator dafür ist, dass in anderen Ländern mehr oder weniger Menschen auf Autobahnen sterben als in Deutschland. Dennoch sieht Verkehrsforscher Michael Schreckenberg von der Universität Duisburg-Essen einen Zusammenhang zwischen Tempolimit und Verkehrstoten: Weitere Faktoren seien zum Beispiel der Zustand der Straßen oder die Verkehrsdichte.

Und auch Wulf-Holger Arndt von der TU Berlin sagt, dass es eine allgemeine Korrelation zwischen Geschwindigkeit und Anzahl und Schwere der Verkehrsunfälle gibt. So sei das Tempolimit eine - aber nicht die einzige - Ursache für weniger schwere Unfälle. "Das hat mit dem Bremsweg zu tun, der quadratisch mit der Geschwindigkeit steigt, und mit der Aufprallkraft, die von der (Fahrzeug-)Masse und der Beschleunigung abhängt."

Laut Destatis ist zu schnelles Fahren eine der Hauptunfallursachen auf Autobahnen. Demnach starben 2023 130 Menschen bei Geschwindigkeitsunfällen auf Autobahnen, das entspricht 43 Prozent aller Todesfälle bei Unfällen auf Autobahnen.

Zusammenhang zwischen Geschwindigkeit und Unfällen

Auch einige Studien stellen einen Zusammenhang zwischen der Höhe der Geschwindigkeit und der Anzahl sowie Schwere von Unfällen fest. So zeigte eine Untersuchung der brandenburgischen Landesregierung aus dem Jahr 2007, dass nach der Einführung eines Tempolimits die Zahl der Unfälle und Verletzten auf einem Autobahnabschnitt der A24 deutlich reduziert wurde. Auch auf einem Autobahnabschnitt der A4 in Nordrhein-Westfalen kam es nach der Einführung eines Tempolimits zu einem Rückgang tödlicher Unfälle, wie der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) mitteilt.

Der Spiegel hatte 2019 auf Grundlage einer Auswertung des Unfallatlas der statistischen Ämter des Bundes und der Länder errechnet, dass auf jeder Milliarde gefahrener Kilometer auf Autobahnabschnitten mit Tempolimit 0,95 Unfälle mit Todesfall vorkamen. Auf Strecken ohne Tempolimit hingegen waren es 1,67 Unfälle mit Todesfall.

Diskussion um Tempolimit

Einige Verbände und Experten kritisieren jedoch, dass die wissenschaftlichen Daten zu einem konkreten Tempolimit unzureichend sind. Denn eine Korrelation bedeutet nicht automatisch auch eine Kausalität. Zudem verweisen sie darauf, dass an besonders gefährlichen Streckenabschnitten bereits Geschwindigkeitsbegrenzungen eingeführt worden sind.

Befürworter eines Tempolimits betonen hingegen nicht nur die Korrelation zwischen der Geschwindigkeit und der Anzahl und Schwere von Unfällen, sondern führen noch weitere Argumente wie den Umweltschutz ran. Nach Angaben des Umweltbundesamts würde ein generelles Tempolimit von 120 Kilometern pro Stunde auf Autobahnen in Deutschland eine Ersparnis von 4,5 Millionen Tonnen CO2 hervorrufen - das entspräche etwa drei Prozent der Emissionen im Verkehrssektor.