Debatte über Akw-Laufzeiten Erst Stresstest, dann Entscheidung
Die Debatte über längere AKW-Laufzeiten reißt nicht ab. Die Grünen schließen einen "Streckbetrieb" nicht aus, die FDP schlägt vor, die Laufzeit gleich bis 2024 zu verlängern. Kanzler Scholz will einen zweiten Stresstests abwarten.
In der Debatte über längere Laufzeiten für Atomkraftwerke will die Bundesregierung sich nicht zu einer Entscheidung drängen lassen. Kanzler Olaf Scholz (SPD) wolle zunächst die Ergebnisse eines zweiten Stresstests zur Sicherheit der Stromversorgung abwarten, sagte eine Regierungssprecherin. Sie bekräftigte, die Frage eines Weiterbetriebs der drei noch verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland über das Jahresende hinaus werde ergebnisoffen geprüft.
Ein Sprecher von Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sagte: "Zum jetzigen Zeitpunkt gehen wir davon aus, dass Deutschland aus der Atomkraft aussteigt." Die Anforderungen für einen Weiterbetrieb wären sehr hoch, Sicherheitsfragen wären ausschlaggebend.
FDP nennt Zeitrahmen für Weiterbetrieb
Die FDP sprach sich gleich für einen Weiterbetrieb bis 2024 aus. "Das ist der Zeitraum, in dem uns Energieknappheit droht. Deshalb müssen wir dafür gewappnet sein", sagte der energiepolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Michael Kruse, der "Bild".
Auch der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr drängte auf eine Laufzeitverlängerung. "Wir erwarten für den Winter europäische Solidarität", sagte er. Auch Deutschland müsse sich solidarisch zeigen. "Wir müssen daher alles, was zur Stromproduktion beitragen kann, auch nutzen. Kernkraftwerke gehören dazu", fügte er an. Die EU verweise sogar explizit auf Kernenergie als Ausweichtechnologie. "Ich wüsste nicht, wie wir unseren europäischen Partnern erklären sollen, dass wir sichere Energiequellen aus ideologischen Gründen abschalten, während Frankreich mit einem Bein in einer Stromkrise steht."
Frankreich setzt zur Stromerzeugung anders als Deutschland sehr auf Atomkraft. Rund die Hälfte der französischen Atomkraftwerke war zuletzt aber wegen Defekten oder Wartungen vom Netz.
Ergebnisse "in den nächsten Wochen" erwartet
Das Wirtschaftsministerium hatte vor einer Woche einen zweiten Stresstest zur Sicherheit der Stromversorgung in Deutschland angekündigt. Es gehe darum festzustellen, ob die Versorgungssicherheit im Stromsektor und der sichere Betrieb des Netzes unter verschärften Annahmen gewährleistet seien.
Mit Ergebnissen sei "in den nächsten Wochen" zu rechnen, bekräftigte eine Sprecherin nun. Einen genauen Termin konnte sie nicht nennen. Alle seien sich aber im Klaren, dass es Zeitdruck gebe "und dass mit Hochdruck gerechnet werden muss".
Die Sprecherin verwies erneut darauf, Deutschland habe wegen der Drosselung russischer Lieferungen in erster Linie ein Gas- und kein Stromproblem. Es gehe auch nicht darum, deutsche Atomkraftwerke länger laufen zu lassen, um "kaputte" französische Atomkraftwerke zu ersetzen. Ein erster Stresstest vom März bis Mai dieses Jahres kam zum Ergebnis, dass die Versorgungssicherheit im kommenden Winter gewährleistet ist.
Göring-Eckardt schließt Streckbetrieb nicht aus
Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) schließt einen "Streckbetrieb" von Atomkraftwerken in Deutschland über das Jahresende hinaus offenbar nicht aus. Auf die Frage, ob die Grünen einen solchen Betrieb zulassen würden, sagte sie am Sonntagabend in der ARD-Sendung "Anne Will": "Wenn es dazu kommt, dass wir eine wirkliche Notsituation haben, dass Krankenhäuser nicht mehr arbeiten können, wenn eine solche Notsituation eintritt, dann müssen wir darüber reden, was mit den Brennstäben ist." Vor einem solchen "Streckbetrieb" sollten aber weitere Maßnahmen geprüft werden.
Die Linkspartei lehnte dies hingegen ab. Der "Streckbetrieb" sei "nicht sinnvoll" und aus Sicherheitsgründen "nicht zu verantworten", sagte Bundesgeschäftsführer Tobias Bank. Er kritisierte, dass die Grünen der erneuten Prüfung zum möglichen AKW-Weiterbetrieb überhaupt zugestimmt hätten.
Die drei verbliebenen Kernkraftwerke Neckarwestheim 2, Emsland und Isar 2 müssen nach geltendem Recht spätestens am 31. Dezember abgeschaltet werden. An der Nettostromerzeugung in Deutschland haben sie im laufenden Jahr einen Anteil von rund sechs Prozent.
Ein "Streckbetrieb" gilt als nicht einfach: Die Bundesministerien für Umwelt und Wirtschaft waren in einer Prüfung im März zum Ergebnis gekommen, dass die drei Meiler mit den vorhandenen Brennstäben nach dem 31. Dezember nur dann weiterlaufen könnten, wenn ihre Stromerzeugung vorher gedrosselt würde. Die Ministerien hatten von einem Weiterbetrieb abgeraten. Der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) zufolge wäre ein Streckbetrieb für mindestens 80 Tage realisierbar.
Auch Sorgen wegen PSÜ-Prüfungen
Union und FDP werben dafür, den Ausstiegsplan für die Meiler auszusetzen und einen zumindest begrenzten Weiterbetrieb über den Jahreswechsel hinaus zu ermöglichen. Die Reaktoren sollten demnach weiterhin Strom erzeugen und damit Gas einsparen, das zur Erzeugung von Elektrizität eingesetzt wird.
Der erste parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei (CDU), sagte der "Bild"-Zeitung, es müsse jetzt zügig gehen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck müsse alles tun, um die Energielücke im nächsten Winter zu schließen. Dazu gehörten neben Energiesparen vor allem das Anheben der Deckelung bei der Energieerzeugung aus Biogas und längere AKW-Laufzeiten.
Der Vizevorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Matthias Miersch, sieht einen Weiterbetrieb hingegen weiterhin skeptisch. "Bislang sprechen die technischen, finanziellen und sicherheitsrelevanten Aspekte klar gegen jeden weiteren Betrieb deutscher Atomkraftwerke", sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie mit unglaublichen Gefahren für Mensch und Umwelt." Die Sicherheitsüberprüfungen der verbliebenen Atommeiler lägen 13 Jahre zurück, auch das müsse ausreichend berücksichtigt werden.
Die Periodischen Sicherheitsüberprüfungen (PSÜ) dienen laut Umweltministerium dazu, ergänzend zu laufenden Kontrollen ein AKW gründlich zu überprüfen. Laut Atomgesetz müssen die PSÜ eigentlich alle zehn Jahre durchgeführt werden. Für die verbliebenen drei AKW gab es das letzte Mal im Jahr 2009 eine solche Überprüfung. Auf die letzte habe verzichtet werden dürfen - wenn der AKW-Betreiber verbindlich erklärt habe, nicht später als drei Jahre nach dem für die letzte PSÜ vorgeschriebenen Zeitpunkt den Leistungsbetrieb endgültig einzustellen.
Der wirtschaftspolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Leif-Erik Holm, forderte die Grünen auf, ihre "ideologischen Scheuklappen" abzulegen. "Wir brauchen alle Kernenergie, die wir bekommen können." Dazu gehöre neben dem Weiterbetrieb der noch drei laufenden Kraftwerke, die drei im vergangenen Jahr vom Netz genommenen Atomkraftwerke wieder zur Stromproduktion zu nutzen.