Tag der Menschen mit Behinderung "Barrierefreiheit hilft allen Menschen"
Ein Aufzug und eine Rampe am Eingang - das heißt für viele Barrierefreiheit. Aber damit ist es nicht getan. "Es muss ein Umdenken stattfinden", fordert Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK im Interview mit tagesschau24.
tagesschau24: Was bedeutet dieser "Tag der Menschen mit Behinderung" heute für Sie?
Verena Bentele: Ich finde den Tag wichtig, weil wir die Gelegenheit haben, über Inklusion in Deutschland zu sprechen. Was bedeutet es, Menschen mit Behinderungen zu benachteiligen? Was bedeutet das im Alltag ganz konkret an Beispielen? Wie sieht eine inklusive Gesellschaft aus, die für alle inklusiv ist? Es geht ja nicht nur darum, irgendwie die Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft zu bekommen. Eine inklusive Gesellschaft fordert - und zwar alle Menschen mit und ohne Behinderung.
tagesschau24: Wo sehen Sie die größten Defizite?
Bentele: Ganz große Defizite sehe ich vor allem im Bewusstsein, weil Menschen mit und ohne Behinderungen immer noch zu wenig Berührungspunkte haben. Sie lernen oder arbeiten zum Beispiel oft nicht gemeinsam. In noch immer mehr als 40.000 Betrieben in Deutschland sind überhaupt keine Menschen mit Behinderung beschäftigt. Da muss sich ganz dringend was tun. Nur durch das gemeinsame Erleben und Leben werden Barrieren in den Köpfen beseitigt.
Und die andere ganz große Herausforderung ist die Barrierefreiheit. Denn Teilhabe wird immer nur gelingen, wenn Mobilität gelingt, wenn Menschen mit Rollstühlen oder mit Sehbehinderung überall hinkommen. Wenn wir digitale Barrierefreiheit haben oder wenn wir barrierefreie Arztpraxen, Restaurants und Kinos haben.
Verena Bentele ist seit Mai 2018 Präsidentin des Sozialverbands VdK. Zuvor war sie vier Jahre lang Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen. Bentele ist von Geburt an blind. Die ehemalige Leistungssportlerin hat zwölf Mal paralympisches Gold im Biathlon gewonnen.
"Umsetzung und nicht erst einen Prüfauftrag"
tagesschau24: Die Große Koalition hat sich im Koalitionsvertrag darauf verständigt, es behinderten Menschen zum Beispiel im Gesundheitssystem einfacher zu machen. Was ist davon bereits umgesetzt worden?
Bentele: Die Große Koalition hat sich zunächst einmal darauf verständigen, einen Prüfauftrag auszuführen, der noch nicht gestartet ist. Ich kann da nur ein bisschen müde lächeln. Denn wir wissen seit vielen, vielen Jahren, dass das Thema Barrierefreiheit im Gesundheitssystem ein Riesenproblem ist. Das gilt für Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen - auch für viele ältere Menschen, die ich im Verband VdK vertrete.
Barrierefreiheit heißt, dass es einen Aufzug gibt, damit man auch in den zweiten Stock kommt. Aber heißt es auch, das Informationen für Hörgeschädigte oder für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen zur Verfügung gestellt werden? Da braucht es wirklich ganz dringend die Umsetzung und nicht erst einen Prüfauftrag.
tagesschau24: Was muss denn nun die Regierung Ihrer Meinung nach umsetzen?
Bentele: Es gibt seit vielen Jahren die ganz klare Forderung, dass private Anbieter von Dienstleistungen und Produkten verpflichtet werden, Barrierefreiheit herzustellen. Es müssen angemessene Vorkehrungen - wie man das nennt - für Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen immer mitgedacht und mitgeplant werden. Es darf nicht so sein wie bisher, dass Barrierefreiheit immer nachträglich zum Thema wird, sondern dass in unserem Gesundheitssystem jeder Versicherte den Anspruch auf Barrierefreiheit hat.
"Informationen in leichter Sprache oder Brailleschrift"
tagesschau24: Können Sie das an einem Beispiel festmachen? Wie sähe so etwas in einer Arztpraxis aus?
Bentele: Beispielsweise so, dass Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen dann auch Unterstützung und Informationen in leichter Sprache bekommen. Oder dass ich in einer Arztpraxis auch mal Informationsmaterial in Brailleschrift bekomme und nicht irgendeinen Zettel irgendwo unterschreiben muss und überhaupt nicht weiß, was ich da unterschreibe. Oder dass Menschen, die im Rollstuhl sitzen, beim Zahnarzt oder Gynäkologen auch barrierefreie Untersuchungsmöbel haben - und dass sie überhaupt erst einmal in die Praxis reinkommen und die dann auch eine barrierefreie Toilette hat.
tagesschau24: Müsste auch ein Umdenken stattfinden?
Bentele: Es muss ganz zwingend ein Umdenken stattfinden. Barrierefreiheit ist ja für niemanden störend. Sie ist für alle Menschen hilfreich und komfortabel - nicht nur für Menschen mit Behinderung. Wenn etwa am Bahnhof der Aufzug ausgefallen ist, dann stehen auch Menschen mit einem 25 Kilo schweren Koffer vor einem Problem. Die können sich dann vielleicht noch irgendwie behelfen. Aber Menschen im Rollstuhl oder mit Kinderwagen haben es dann richtig schwer.
tagesschau24: Reicht das denn, was die Regierung da nun anpacken will?
Bentele: Auf keinen Fall. Nötig ist einerseits eine Verpflichtung für die Herstellung von Barrierefreiheit im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Andererseits brauchen wir aber wirklich auch ein Bewusstsein - und das werden wir nur schaffen, wenn wir ein selbstverständliches Zusammenleben lernen.
Das Interview führt Kirsten Gerhard, tagesschau24. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert und leicht gekürzt. Die vollständige Fassung finden Sie als Video auf dieser Seite.