Jahresbilanz 2010 - Die Köpfe des Jahres (2): Sarrazin - Volksheld oder Volksverhetzer?
Kaum einer hat die Gesellschaft in diesem Jahr so gespalten wie er: Thilo Sarrazin. Der ehemalige Bundesbankvorstand provozierte mit Theorien zur Genetik und polemischen Äußerungen gegenüber Migranten. Doch während er einen Sturm der Entrüstung erntete, wurde sein Buch ein Bestseller.
Von Barbara Kostolnik, BR, ARD-Hauptstadtstudio
Dieser Mann war überall in diesem Jahr: Sein Konterfei hatte es sogar zeitgleich auf die Cover der beiden größten deutschen Nachrichtenmagazine geschafft. Und noch nicht mal im Bundestag schien man vor ihm sicher zu sein: "Kollege Westerwelle, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sarrazin zulassen?" "Wer?" "Herr Sarrazin." "Ist der jetzt auch Mitglied dieses Hauses?" "Schon seit einiger Zeit." In diesem Fall handelte es sich nun einmal nicht um Thilo Sarrazin, sondern um den Grünen-Abgeordneten Manuel Sarrazin. Aber das kurze Geplänkel zwischen Außenminister Westerwelle und Bundestags-Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt zeigt schon: dem Mann ist kaum zu entkommen.
Zumal er eben dieses Buch geschrieben hat: "Deutschland schafft sich ab". "Mein Buch ist ein politisches Sachbuch, aber mehr ein Sachbuch. Und ich sehe mich durch die Meinungsfreiheit gedeckt, da bin ich völlig zuversichtlich", betonte Sarrazin. Die Zuversicht, die er am Tag der ersten Buchvorstellung zur Schau trägt, trügt. Denn die Bundesbank, deren Vorstand Sarrazin zu diesem Zeitpunkt noch war, hat bald die Faxen dicke. Weil sie ihn aber nicht Knall auf Fall feuern kann, einigt man sich elegant auf eine Abfindung.
Steile Thesen, dass die Deutschen aussterben
Sarrazin bittet Bundespräsident Christian Wulff um seine Entlassung. Die SPD hingegen, deren Mitglied Sarrazin immer noch ist, tat sich da deutlich schwerer: "Mit seinen jüngsten Äußerungen zum Zusammenhang zwischen angeblichen genetischen Dispositionen und Intelligenz sowie Bildungsbereitschaft hat sich Thilo Sarrazin außerhalb der sozialdemokratischen Partei und Wertegemeinschaft begeben", erklärte Sigmar Gabriel. Der SPD-Chef rang sich irgendwann dann doch dazu durch, Sarrazin einen Parteiaustritt nahezulegen. Eben wegen dessen steiler Thesen, dass die Deutschen aussterben werden wie die Indianer, wenn sie ihr Geburtenverhalten nicht umgehend ändern. Und dass dann weniger kluge Ausländer vor allem aus arabischen Ländern Deutschland quasi übernehmen.
Zum Jahresende 2010 zieht tagesschau.de Bilanz. Welche Politiker haben in den vergangenen zwölf Monaten für Schlagzeilen gesorgt, welche Themen haben die Agenda bestimmt und wie hat sich die Parteienlandschaft verändert? Reporter aus dem ARD-Hauptstadtstudio blicken zurück auf ein Jahr, das geprägt war von überraschenden Rücktritten, unerwarteten Popularitätszuwächsen und Reformen, die die politische Landschaft verändern.
Sarrazin hingegen denkt nicht im Traum daran, die SPD freiwillig zu verlassen: "Ich bin in einer Volkspartei, ich werde in dieser Volkspartei bleiben. Auch deshalb, weil diese Fragen in die großen Volksparteien gehören, wo sie diskutiert und mit anderen Fragen abgewogen werden müssen - nicht in die Hand neuer Parteien." Zurzeit läuft das Parteiausschlussverfahren gegen den passionierten Fotografen und leidenschaftlichen Spaziergänger, der so gerne Grenzen überschreitet: Ausgang ungewiss.
Provokante Zeilen zur Genetik gestrichen
Von seinen Thesen will er sich trotzdem nicht verabschieden: "Wenn ich sage, die Erde ist rund und jemand anders, den ich moralisch verabscheue, sagt auch die Erde ist rund, dann sage ich nicht, die Erde ist eckig. Dann werde ich sagen, sie ist rund und du bist trotzdem ein Arschloch, also Entschuldigung." Thilo Sarrazin entschuldigt sich ungern. Auch weil er außergewöhnlich stur und arrogant ist. Allerdings sucht man in der 14. Auflage des mittlerweile zig-Millionenmal verkauften roten Buchs ein paar besonders provokante Zeilen zur Genetik vergebens. Die hat er nämlich tatsächlich gestrichen. Die Debatte um Zuwanderung und Integration, die Sarrazin - Volksheld oder Volksverhetzer - angestoßen hat, sie bleibt.