Plädoyer für Ganztags- und Gesamtschulen "Wir müssen den Einfluss der Eltern schwächen"
Wenn Kinder aus bildungsfernen Familien Ganztagsschulen besuchen, steigen ihre Bildungschancen, sagt der Soziologe Müller-Benedict im Interview mit tagesschau.de. Auch Gesamtschulen stärken demnach diese Kinder, weil sie sich eher durch Klassenkameraden als durch Bedenken der Eltern beeinflussen lassen.
Wenn Kinder aus bildungsfernen Familien Ganztagsschulen besuchen, steigen ihre Bildungschancen, sagt der Soziologe Müller-Benedict im Interview mit tagesschau.de. Auch Gesamtschulen stärken seiner Einschätzung nach diese Kinder, weil sie sich eher durch Klassenkameraden als durch Bedenken der Eltern beeinflussen lassen.
tagesschau.de: Sie forschen zum Thema Schulerfolg. Wann hat man denn Erfolg in der Schule?
Müller-Benedict: Eine Komponente ist die Leistung der Schüler, also der Notendurchschnitt. Anderseits hängt der Erfolg von der Schulform ab, die man besucht - also Gymnasium, Haupt- oder Realschule. Die Kombination aus beidem kann man als den Schulerfolg definieren. Auf der individuellen Ebene kommt es darauf an, ob jemand erreicht, was er erreichen will. Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene kann man die Abiturientenquote heranziehen, also die Anzahl der Absolventen von weiterführenden Schulen. Die Pisa-Studie hat zum Beispiel auf dieser Grundlage die Quote in den verschiedenen Bundesländern verglichen.
Prof. Dr. Volker Müller-Benedict lehrt an der Universität Flensburg. Der studierte Mathematiker promovierte im Fach Erziehungswissenschaften und habilitierte im Fach Soziologie. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Bildungssoziologie und die Modellierung und Simulation sozialer Systeme.
tagesschau.de: Es gibt aber auch eine Kluft zwischen dem, was ein Schüler aufgrund seiner Talente erreichen könnte, und dem, was ihm ermöglicht wird.
Müller-Benedict: Das ist der Punkt: Die Verteilung der Kinder auf die verschiedenen Schulformen erfolgt eben nicht in der gleichen objektiven Weise, wie es die Noten eigentlich vorgeben. Kinder aus bildungsfernen Schichten mit den gleichen Potenzialen besuchen seltener das Gymnasium, auch wenn sie dazu fähig wären.
Strukturelle und soziale Ungleichheiten
tagesschau.de: Liegt das allein am Elternhaus?
Müller-Benedict: Man muss den Schulerfolg auf zwei Ebenen betrachten: familiäre und strukturelle. Der familiäre Hintergrund hat selbstverständlich Einfluss auf die Schulleistungen des Kindes. Dabei spielen unter anderem Begabungen und Förderung eine Rolle. Mindestens genauso stark wirkt sich die Empfehlung für eine bestimmte Schullaufbahn aus: Das ist die Weggabelung, an der die Kinder für verschiedene Schulformen quasi "sortiert" werden.
tagesschau.de: Das heißt, die Lehrer sind schuld, weil sie die Kinder falsch "sortieren"?
Müller-Benedict: Die Lehrer tun in der Grundschule wirklich ihr Bestes, das zeigen verschiedene Studien. Die Lehrer sind eine Seite, die andere sind die Eltern. Oft wissen Eltern und Lehrer, dass die Familie Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe nicht leisten kann. Das wird aber auf Gymnasien heutzutage erwartet. Dann wird also durchaus rational entschieden: Trotz guter Leistungen schicken wir das Kind nicht aufs Gymnasium, sondern wollen den persönlichen Erfolg auf der Realschule haben. Es gibt also strukturelle und soziale Ungleichheiten, die Eltern und Lehrer zu solchen Entscheidung zwingen.
tagesschau.de: Das klingt nach Argumenten aus der Vergangenheit, als es zum Beispiel hieß, der Junge geht aus finanziellen Gründen nicht aufs Gymnasium und das Mädchen nicht, weil es später sowieso Hausfrau wird.
Müller-Benedict: In den Sechziger Jahren war das katholische Mädchen vom Lande die Person, die strukturell stark benachteiligt war. Es gab auf dem Land weniger Bildungschancen, erst recht für Mädchen. Das ist in den Bildungsreformen der Siebziger bewältigt worden. Heute gibt es weder für Katholiken, noch für Mädchen Benachteiligungen. Das sind also alte Hüte. Doch dazu gibt es heute tatsächlich Parallelen, wenn aus den erwähnten strukturellen Gründen die höhere Schule ausgeschlossen wird.
tagesschau.de: Was kann man gegen diese Benachteiligungen unserer Zeit tun?
Müller-Benedict: Wir müssen den Einfluss der Eltern auf die Schullaufbahn schwächen. Sobald der Einfluss des Elternhauses zurückgedrängt wird, fallen andere Entscheidungen. Es müssen daher Ganztagsschulen eingeführt werden. Wenn man auf pädagogisch sinnvollen Ganztagsbetrieb umstellt, der nachmittags nicht nur Aufsicht führt, dann kriegt man auch die Hausaufgabenhilfe in den Griff.
Plädoyer für die Gesamtschule
tagesschau.de: Funktioniert das auch im dreigliedrigen Schulsystem?
Müller-Benedict: Ich spreche mich gegen dieses Unikum der deutschsprachigen Länder aus. Ich plädiere ganz klar für die Gesamtschule. Oder zumindest muss der Übergang zu den weiterführenden Schulen nach hinten verlegt werden, also erst nach Klasse sechs oder acht. Dann können die Kinder auch mehr für sich sprechen, weil sie älter sind. Wenn die Kinder aus verschiedenen sozialen Schichten zusammen unterrichtet werden, dann orientieren sich die Kinder am höchsten Niveau in der Klasse. Kinder aus bildungsfernen Schichten richten sich dann mehr nach anderen. Ihre eigenen Ansprüche werden stärker. Dadurch können sie sich auch bei der Wahl der Schulform gegenüber ihren Eltern besser durchsetzen.
tagesschau.de: Die wohlhabenderen Eltern flüchten mit ihren Kindern vermehrt in Privatschulen. Ist das ein Offenbarungseid für das staatliche System?
Müller-Benedict: Was den Schulerfolg angeht, werden an Privatschulen keineswegs bessere Ergebnisse erzielt als an öffentlichen Schulen. Eine Gefahr besteht auf Privatschulen für die Entwicklung sozialer Kompetenz. Die ist an der Gesamtschule leichter zu erlernen, wo verschiedene Schichten beisammen sind.
Das Interview führte Anja Mößner, tagesschau.de