Dänen-Partei will in Bundestag SSWer?
Die Kernwählerschaft ist klein, doch die Chancen stehen gut. Erstmals nach 60 Jahren könnte die Partei der dänischen und friesischen Minderheit in den Bundestag einziehen. Aber was will der SSW eigentlich da?
Ganz im Norden Deutschlands gibt es so etwas wie ein gallisches Dorf, das deutlich länger bei der Fußball-EM mitfiebern konnte, als bis zum Achtelfinale: Es liegt im Norden Schleswig-Holsteins und wird Südschleswig genannt. Dort leben auf drei Kreise und eine Stadt verteilt die deutschen Dänen - Mitglieder einer nationalen und damit geschützten Minderheit in Deutschland.
Wie Stefan Seidler: "Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust, das deutsche und das dänische", sagt er. Seine Partei, der Südschleswigsche Wählerverband SSW, hat ihn zum Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl gemacht - dem ersten seit den 1960er-Jahren.
Besondere Rechte für die Minderheiten
Seidlers Mutter stammt aus Dänemark, sein Vater ist "Flensburger Jung", wie er selbst. Er spricht fließend Dänisch. "Deshalb war es für mich ganz normal, die dänische Schule im Landesteil Schleswig zu besuchen", sagt Seidler. Seine Frau hat er beim Studium in Dänemark kennengelernt, seine Familie ist Teil der dänischen Minderheit - wie schätzungsweise weitere 50.000 Menschen in Südschleswig.
Schätzungsweise, weil es keine Prüfung zur Zugehörigkeit gibt: Jeder Schleswig-Holsteiner ist frei, sich zur dänischen Minderheit zu bekennen - seit der Volksabstimmung 1920, als die Bürger im damaligen Herzogtum Schleswig abstimmen konnten, zu welchem Land sie gehören wollen. Die im Norden Schleswigs wurden Dänen, die in Südschleswig Deutsche. Es entstanden Minderheiten auf beiden Seiten.
Spitzenkandidat Seidler und seine Partei haben gemessen an der Größe der Minderheit - die neben den Dänen auch die etwa 10.000 nationalen Friesen einschließt - und der Mitgliederzahl von nicht einmal 4000 einen gewaltigen Schritt vor: von Flensburg etwa 400 Kilometer in Richtung Südosten, nach Berlin. Dort will der SSW einen Sitz im Bundesparlament bekommen. Und die Chancen, das zu erreichen, stehen erstaunlich gut - obwohl die Partei nur in Schleswig-Holstein Stimmen sammeln kann.
Mit skandinavischen Lösungen nach Berlin: SSW-Spitzenkandidat Seidler.
Etwa 50.000 Stimmen könnten reichen
Der SSW ist als Minderheitenpartei laut Bundeswahlgesetz von der Fünf-Prozent-Klausel ausgenommen. Die Partei müsste lediglich so viele Stimmen gewinnen, dass ihr nach dem Berechnungsverfahren ein Mandat zusteht. Für den SSW wird der 26. September also eine lange Wahlnacht.
Ob der SSW zum Zuge kommt, hänge neben der Stimmenzahl auch von der Wahlbeteiligung ab, sagt Politikwissenschaftler Wilhelm Knelangen von der Universität Kiel. "Je geringer die Wahlbeteiligung, desto größer sind die Chancen für den SSW." Außerdem spielen mögliche Überhangmandate eine Rolle, sollte der nächste Bundestag wie erwartet sehr groß werden: Bei einem Stimmausgleich steigt für den SSW die Wahrscheinlichkeit, einen Sitz zu bekommen.
Wahlprogramm des SSW: Ausnahme von der Fünf-Prozent-Hürde
"Das ist keine Utopie"
Wie viele Stimmen der SSW genau braucht, kann also nur überschlagen werden, gemessen an der Wahlbeteiligung der vergangenen Jahre und am Stimmenpotenzial der Landtagswahlen in Schleswig-Holstein. "Wir gehen von 40.000 bis 50.000 Stimmen aus", sagt der Parteivorsitzende Flemming Meyer. "Das ist keine Utopie, aber wir kriegen die Stimmen nicht von selbst." Bei der Landtagswahl 2017 hat der SSW in Schleswig-Holstein 49.000 Stimmen bekommen.
Seit der SSW Anfang der 1990er-Jahre in ganz Schleswig-Holstein gewählt werden kann und nicht mehr nur im Landesteil Schleswig, ist er meist mit mehreren Abgeordneten im Landtag in Kiel vertreten. Im Jahr 2012 war der SSW sogar an der Regierung beteiligt, an der sogenannten Küstenkoalition mit SPD und Grünen.
Laut Politikwissenschaftler Knelangen hat dies dazu beigetragen, dass der SSW nicht mehr als reine Minderheitenpartei wahrgenommen wird. Was für die Mission Bundestag wichtig ist.
In einer zweitägigen Sitzung entscheidet der Bundeswahlausschuss derzeit, welche politischen Vereinigungen an der Bundestagswahl teilnehmen dürfen. 87 kleinere Parteien und Vereinigungen hatten dem Bundeswahlleiter angezeigt, dass sie am 26. September auf dem Wahlzettel stehen wollen. Die Aufgabe des Bundeswahlausschusses an diesem Donnerstag und Freitag besteht nun darin, zu entscheiden, welche dieser Gruppierungen als Partei anerkannt werden können. Entscheidungsgrundlage dafür ist das Parteiengesetz.
2017 hatten sich 63 Gruppierungen beworben, zugelassen wurden 40.
Lediglich Parteien, die im Bundestag oder in einem Landtag seit deren letzter Wahl auf Grund eigener Wahlvorschläge ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten sind, müssen die Prozedur im Bundeswahlausschuss nicht durchlaufen. Sie können ihre Wahlvorschläge direkt bei den Landes- und Kreiswahlleitungen einreichen.
"Wir kamen uns wie Bittsteller vor"
Denn der SSW stellt sich dafür zweigleisig auf: einmal als Vertreter der Minderheiten der Dänen und Friesen - aber auch der anderen Minderheiten in Deutschland - wie Sorben und Sinti und Roma: "Wir haben mit den anderen Parteien und Abgeordneten immer eine gute Zusammenarbeit gepflegt, aber wir kamen uns auch immer wie Bittsteller vor", sagt Spitzenkandidat Seidler.
Zum anderen will der SSW als Regionalpartei schleswig-holsteinische Themen in den Bundestag bringen. Die Partei nimmt das Land als bundespolitisch abgehängt wahr. Beispiele sind Infrastruktur, Bezuschussung von Krankenhausbetten und Einkommen: "Wenn wir uns die Durchschnittseinkommen in den West-Bundesländern anschauen, ist Schleswig-Holstein Schlusslicht", sagt Spitzenkandidat Seidler. Der SSW will mit seinen Themen im Bundestag auch skandinavische Lösungen anbieten, die oft pragmatisch und erfolgreich sind, wie beim Thema Digitalisierung, so Seidler. "Das Gute bei uns ist: Wir haben keine Parteizentrale in Berlin, die uns eine bundespolitische Richtung vorgibt."
Der Landesparteitag zur Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl im Mai: Nicht nur regionale Themen für den Bundestag
Fast die Hälfte gegen Mission Bundestag
Für den Bundestags-Vorkämpfer und Parteivorsitzenden Meyer ist die Zeit reif: "Wir haben festgestellt, dass vor allem bei den Jüngeren der Wunsch da ist, zu kandidieren. Und dass wir auch eine Chance haben." Das war nicht immer so: Von 1949 bis 1953 hatte der SSW bereits einmal mit Hermann Claußen einen Abgeordneten im Bundestag. Danach ist es nicht mehr gelungen, genügend Stimmen zu holen. "Sie haben dann Anfang der 1960er-Jahre beschlossen, dass man nicht mehr kandidieren wollte," erzählt Meyer. "Aber mit dem Zusatz: Solange wir keine Chance haben."
Ende der 1990er-Jahre hat die Partei festgestellt, dass es reichen könnte. Bereits Flemming Meyers Vater Karl Otto hatte sich für eine Kandidatur der Partei eingesetzt - ist aber immer wieder an Parteitagsbeschlüssen gescheitert.
Bei einem Parteitag im September 2020 starteten Befürworter um Parteichef Flemming Meyer das Vorhaben erneut: Etwa 60 Prozent stimmten für die Kandidatur. Zweifler gab es trotzdem. Die Sorge: Der Weg Richtung Bundestag könnte die Partei spalten, der SSW könnte sich überdehnen. "Im Gegenteil", sagt Meyer: "Das hat richtig Schwung reingebracht."
SSW-Kandidat tritt gegen Habeck an
Spitzenkandidat Seidler hält es für sehr wahrscheinlich, dass der SSW genügend Zweitstimmen für ein Mandat erhalten wird. Für Politikwissenschaftler Knelangen ist es allerdings auch nicht ausgeschlossen, dass der SSW ein Direktmandat holen könnte, gerade im Flensburger Wahlkreis, in dem der SSW bei Kommunalwahlen stark ist: "Das kann dann mal knapp werden. Der SSW könnte in einzelnen Wahlkreisen größere Parteien ärgern." Seidler tritt in Flensburg ausgerechnet gegen einen bundesweit bekannten Kandidaten an: Robert Habeck von den Grünen.
Was soll ein Abgeordneter in Berlin?
Ein Abgeordneter allein bekommt im Bundestag keinen Fraktionsstatus. "Das bringt Nachteile bei Redezeiten und in der Vertretung in Ausschüssen", sagt Politologe Knelangen. Der SSW kommt deshalb nicht um die Frage herum, was ein einzelner Abgeordneter bewirken soll.
"Was macht ein Mandat mehr bei den großen Fraktionen, bei den Grünen oder bei der CDU für einen Unterschied für Schleswig-Holstein?", fragt Seidler zurück. "Da macht ein Abgeordneter vom SSW aus unserer Sicht auch einen wesentlich größeren Unterschied für unseren Norden, als wenn die Großen einen mehr kriegen würden."