Die Rolle des deutschen Staatsoberhaupts Brauchen wir das Amt des Bundespräsidenten?
Integer, integrierend, überparteilich - schon die Stellenbeschreibung für das oberste Amt im Staat ist anspruchsvoll. Denn die Macht des Bundespräsidenten leitet sich von seiner Glaubwürdigkeit ab. Bei Wulff ist diese angekratzt. Doch das Amt wird gebraucht.
Von Wenke Börnsen, tagesschau.de
Wäre Christian Wulff noch Ministerpräsident in Niedersachsen, wäre er also ein "normaler" Politiker - er wäre wohl kaum noch im Amt. Lautstarke Rücktrittsforderungen der Opposition und vermutlich auch aus den eigenen Reihen hätten ihn längst hinweg gefegt. Aber Wulff ist kein normaler Politiker mehr. Wulff ist Bundespräsident und damit Staatsoberhaupt. Die Zurückhaltung hat etwas mit der Würde des Amtes zu tun.
Ein Beleg dafür: Oppositionschef Sigmar Gabriel sieht eine "Staatskrise" heraufziehen, wenn mit Wulff der zweite Bundespräsident innerhalb von zwei Jahren zurücktreten würde. Und kein Politiker kommt im Zusammenhang mit der Causa Wulff ohne die Warnung vor einer "Beschädigung des Amtes" aus. "Wir haben ein hohes Interesse daran, dass das Amt des Bundespräsidenten unbeschädigt bleibt", sagt Politik-Routinier Wolfgang Schäuble. Warum eigentlich? Haben die Warnungen vielleicht etwas mit überhöhten Ansprüchen an das Amt des Bundespräsidenten zu tun - und damit zugleich an die Person, die es ausübt?
Ein Bundespräsident soll moralisch unangreifbar sein, er soll überparteilich sein. Er soll integrierend wirken nach innen und außen, repräsentieren und immer die richtigen Worte in beachteten Reden zu wichtigen Themen finden. Seine Glaubwürdigkeit ist seine Macht.
Ruf nach Abschaffung des Amts
Wenn aber diese Ansprüche für die meisten Politiker eine Nummer zu groß sind - brauchen wir dann dieses Amt überhaupt? Repräsentieren, Gesetze unterschreiben, ein paar Mal im Jahr kluge Reden halten und der Kanzlerin hin und wieder eine Auslandsreise abnehmen - diese Aufgaben könnte auch ein Bundesrats- oder Bundestagspräsident übernehmen. Zumal das Amt viel Geld kostet. Denn ein Bundespräsident bekommt als einziger Amtsträger sein volles Gehalt lebenslang - egal, wie lange er im Amt war. Aktuell sind das knapp 200.000 Euro im Jahr. Hinzu kommen ein repräsentatives Büro in Berlin mit Mitarbeitern - ebenfalls lebenslänglich. "Wir brauchen keinen Bundespräsidenten mehr", schlussfolgert etwa Journalist Friedrich Küppersbusch in der Tageszeitung "taz".
Die Forderung nach Abschaffung des Amtes ist nicht neu, aber durch Wulff-Affäre erhält sie neuen Auftrieb. Verfassungsrechtler und Politikwissenschaftler sehen das kritisch. "Man muss die Amtsträger von der Bedeutung des Amts trennen", sagt zum Beispiel der Landauer Politikwissenschaftler Ulrich Sarcinelli. Eine Figur, die die zunehmend komplexe Gemengelage der politischen Geschehnisse für die Bürger reduziere und symbolisch das politische Ganze repräsentiere, werde weiterhin gebraucht.
"Nur weil der vorletzte Bundespräsident [Köhler trat am 31. Mai 2010 nach einer missverständlichen Interview-Äußerung völlig überraschend zurück, Anm. der Redakation] mit dem Amt nicht klargekommen ist und der jetzige seine persönlichen Verhältnisse in höchst unglücklicher Weise darstellt, muss man doch nicht gleich das Amt abschaffen", sagt auch der Berliner Verfassungsrechtler Ulrich Battis gegenüber tagesschau.de. Vielmehr sollte man die "maßlos übertriebenen Ansprüche" an das Amt überprüfen. "Ich bin dafür, einen milderen Maßstab anzulegen."
Machtvoll - vor allem in Krisenzeiten
Auch Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim stellt gegenüber tagesschau.de klar: "Wir brauchen das Amt unbedingt." Der Parlamentarische Rat habe es ja nicht grundlos ins Grundgesetz geschrieben. "Der Bundespräsident soll das längerfristige Denken repräsentieren - unabhängig von politischen Machtspielen und Wahlkämpfen. Daher kann er auch nicht abgesetzt werden, außer vom Bundesverfassungsgericht, wenn er das Grundgesetz oder ein Bundesgesetz verletzt hat. Immerhin kommt hier eine versuchte Nötigung nach § 240 Strafgesetzbuch, also einem Bundesgesetz durch den Droh-Anruf auf Anrufbeantworter des Bild- Chefredakteurs in Betracht," sagt von Arnim.
Die Befugnisse des Staatsoberhaupts hält von Arnim für durchaus machtvoll - vor allem in Krisenzeiten. "Da muss er ein kühler Staatsmann sein, der den Überblick behält." Eine Eigenschaft, die Wulff mit seinem wütenden Drohanruf bei der "Bild" jedoch vermissen ließ. Entsprechende Zweifel hegt daher auch von Arnim: "Ist Wulff stressresistent, wenn es wirklich auf ihn ankommt? Oder gehen ihm da auch die Nerven durch?"
In der Schiedsrichterrolle
Der Politikwissenschaftler Christoph Bieber von der Universität Duisburg-Essen weist im Gespräch mit tageschau.de ebenfalls auf die wichtige Rolle des Bundespräsidenten in Krisenzeiten hin: "Trotz seiner formalen Machtlosigkeit wächst dem Staatsoberhaupt in solchen Situationen eine Schiedsrichterrolle zu", sagt er und erinnert an den Sommer 2005. Damals "beschloss" Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Hilfe einer geplant-gescheiterten Vertrauensfrage Neuwahlen, für die Bundespräsident Horst Köhler wenig später grünes Licht gab. Den Fall einer beabsichtigt verlorenen Vertrauensfrage zum Zwecke von Neuwahlen hatte es erstmals 1983 unter Kanzler Helmut Kohl gegeben. Bundespräsident Karl Carstens löste daraufhin das Parlament auf.
Es gehört zu den wichtigsten staatspolitischen Aufgaben des Bundespräsidenten, im Fall der vom Bundeskanzler verlorenen Vertrauensfrage über die vorzeitige Auflösung des Bundestags (und damit über Neuwahlen) zu entscheiden. Weitere Aufgaben des Staatsoberhaupts sind laut Grundgesetz, dem Bundestag den Kanzler zur Wahl vorzuschlagen. Auf Ersuchen des Parlaments ernennt und entlässt er außerdem den Bundeskanzler, und er ernennt und entlässt auf Vorschlag des Kanzlers die Bundesminister.
Mehr als nur ein "Bundesnotar"
Zu den Aufgaben des Staatsoberhaupts gehört es auch, Gesetze zu prüfen und zu unterschreiben. Ohne seine Unterschrift ist es nicht gültig. "Der Bundespräsident ist aber mehr als nur ein Bundesnotar", sagt Verfassungsrechtler Battis und erinnert an Bundespräsident Köhler. Dieser hatte sein Recht, Gesetze zu prüfen, weit ausgelegt. Zwei Gesetzen verweigerte er seine Unterschrift aus verfassungsrechtlichen Bedenken. Ein seltener Fall, der auch für viel Diskussionen unter Verfassungsrechtlern führte.
Das Amt des Bundespräsidenten lässt also Gestaltungsspielraum. Es kommt sehr auf die Person an, wie das Amt ausgefüllt wird. "Was ist denn das Amt des Bundespräsidenten der Deutschen Bundesrepublik?", fragte der erste Bundespräsident Theodor Heuss am 12. September 1949 und schickte gleich die Antwort hinterher: "Es ist bis jetzt ein Paragraphengespinst gewesen. Es ist von dieser Stunde an ein Amt, das mit einem Menschentum gefüllt ist. Und die Frage ist nun, wie wir alle zusammen aus diesem Amt etwas wie eine Tradition, etwas wie eine Kraft schaffen, die Maß und Gewicht besitzen und im politischen Kräftespiel sich selber darstellen will."
Zehn Jahre blieb Heuss im Amt - und er lieferte seinen Nachfolgern durch seine Amtsführung eine grundlegende Orientierung. Nun war Heuss sicherlich ein großer Redner, während die rhetorischen Fähigkeiten (und damit die Gestaltungskraft) von seinem Nachfolger Heinrich Lübke weniger ausgeprägt waren.
Theodor Heuss, der erste Bundespräsident Deutschlands, war von 1949 bis 1959 im Amt.
Heuss, Lübke, Heinemann, Rau - alle sind anders
Doch auch die Herkunft der Amtsträger prägte ihr Amtsverständnis. Als unpolitisch betrachtete sich keiner der bisherigen zehn Bundespräsidenten - egal, ob sie eine politische Laufbahn hinter sich hatten oder nie zuvor in einem politischen Amt waren. Heinrich Lübke (1959 bis 1969) setzte Akzente in der Entwicklungspolitik, Gustav Heinemann (1969 bis 1974) wollte lieber "Bürgerpräsident" als "Staatspräsident" sein und lud erstmals auch einfache Bürger zum Neujahrsempfang ein. Johannes Rau (1999 bis 2004) wiederum widmete sich der Einwanderungspolitik. Rau war außerdem das erste deutsche Staatsoberhaupt, das vor der israelischen Knesset sprach und in deutscher Sprache um Vergebung für die Verbrechen des Holocaust bat.
"Roman Herzog und Horst Köhler setzten sehr stark auf innenpolitische Themen, während Richard von Weizsäcker eher außenpolitisch wirkte", erinnert auch Verfassungsrechtler Battis an die unterschiedlichen Schwerpunkte der Amtsträger. Gemeinsam ist allen nur: Sie möchten Spuren hinterlassen - durch kluge Reden zu gesellschaftlich relevanten Themen. Das gelingt mal besser und mal weniger gut. Keiner von ihnen war fehlerfrei, aber zumindest gingen sie einigermaßen souverän mit ihren Verfehlungen um. Nie zuvor hatte ein Bundespräsident einen derartigen Sturm der Empörung ausgelöst, wie jetzt Wulff.
Konsens-Kandidat statt politischer Machtpoker
Wie aber lassen sich Fehlbesetzungen verhindern? Verfassungsrechtler von Arnim sowie Politikwissenschaftler Sarcinelli plädieren für eine Direktwahl des Bundespräsidenten. Dadurch müssten sich die Kandidaten schon vor ihrer Wahl offener und transparenter präsentieren, argumentieren sie. Bei vielen bisherigen Bundespräsidenten sei unklar gewesen, woher diese Personen überhaupt kommen. Die Gefahr von Fehlbesetzungen wie bei Wulff oder dessen Vorgänger Köhler würde mit einer direkten Legitimation durch das Volk verringert, sagt Sarcinelli.
Vielleicht reicht es aber auch schon, beim Auswahlverfahren anzusetzen. Die Kandidatensuche und -findung ist zu einem politischen Machtpoker der Parteien verkommen. Auf einen überparteilichen Konsens-Kandidaten konnten sich die Parteien im Sommer 2010 nach dem überraschenden Rücktritt Köhlers nicht einigen. Insofern war die Wahl Wulffs eine politische Wahl - wie schon die von Köhler. Und damit einmal wieder ein Widerspruch zur ursprünglich intendierten Überparteilichkeit des Amtes.