Studie zu DDR-Kinderheimen Gewalt und Vernachlässigung im Heim
Eine halbe Million Kinder und Jugendliche waren in DDR-Heimen untergebracht. Laut einer Studie unter Federführung der Universität Leipzig wurden knapp 70 Prozent von ihnen körperlich misshandelt. 54 Prozent der Befragten sprachen von sexuellem Missbrauch.
Viele ehemalige Bewohner von DDR-Kinderheimen leiden bis heute unter den Folgen von Gewalt und Vernachlässigung. Das ist das Ergebnis einer Studie des Forschungsverbundes "Testimony", der unter Federführung der Universität Leipzig die Erfahrungen Betroffener in vier Teilprojekten untersucht hat.
Demnach geht aus einer Fragebogenstudie mit 273 Teilnehmern hervor, dass 93 Prozent der Befragten körperliche und 95 Prozent emotionale Vernachlässigung erfahren haben. 68 Prozent sprachen demnach von körperlicher Misshandlung, 54 Prozent von sexuellem Missbrauch. "Das sind wahnsinnig hohe Zahlen", sagte Studienleiterin Heide Glaesmer von der Universitätsmedizin Leipzig.
Laut Studie berichteten 43 Prozent der Teilnehmer von komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen. Jeder Fünfte war in seinem Leben mindestens einmal in Haft. Betroffene litten oft noch heute unter Angst vor staatlichen Institutionen, Behörden und Ärzten, sagte Glaesmer. Andere seien verzweifelt, wenn sich ihre Aufenthalte im Heim angesichts lückenhafter Biografien nicht mehr belegen lassen.
Furcht vor neuem Heimaufenthalt im Alter
Trauer und Wut herrsche bei den Betroffenen, weil sie sich wegen fehlender Bildungs- und Orientierungsmöglichkeiten nicht ausreichend auf ihr Leben vorbereitet fühlten. Nicht zuletzt fürchteten sich viele Befragte vor einem erneuten, fremdbestimmten Heimaufenthalt im Alter.
"Wichtig ist aber auch, dass es auch Zeitzeugen gibt, die keine negativen Erfahrungen berichtet haben", sagte Glaesmer. Nach Angaben des Forschungsverbundes "Testimony" waren zwischen 1949 und 1990 etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche in Kinderheimen und Jugendwerkhöfen der DDR untergebracht. Ihre Erfahrungen in diesen Einrichtungen, deren Folgen und Bewältigung seien bislang nicht umfassend erforscht gewesen, hieß es.
Forscher fordern Aufarbeitung
Die Forscher der Universität Leipzig, der Medical School Berlin, der Alice Salomon Hochschule Berlin und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf forderten aufgrund der Ergebnisse in einer "Leipziger Erklärung" weitere Bemühungen um Aufarbeitung.
Der Zugang zu Hilfsangeboten müsse niedrigschwelliger gestaltet und ein sensibler Umgang der Behörden mit Trauma-Erfahrungen gewährleistet werden. Eine Wiedergutmachung der in DDR-Heimen gemachten Erfahrungen sei nicht möglich, erklärten die Forscher.