Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano Die Musik rettete ihr das Leben
Als junge Frau ist Esther Bejarano 1943 nach Auschwitz deportiert worden. Dort rettete ihr ein Platz im Mädchenorchester das Leben. Was sie im Lager ertragen musste und wie sie die Befreiung erlebte, berichtet die 90-Jährige im Gespräch mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Heute ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Was bedeutet der 27. Januar für Sie?
Esther Bejarano: Der Tag steht für die Befreiung von Auschwitz und damit für den Anfang vom Ende des Hitler-Faschismus. Doch in Auschwitz selbst gab es an diesem Tag nur noch relativ wenige Gefangene, die zu krank oder gehbehindert waren, um auf die Todesmärsche zu gehen. Diejenigen, die auf diesen Märschen waren, wurden an diesem Tag noch nicht befreit. Es war ein großer Tag, aber es ist war noch nicht die Befreiung vom Hitler-Faschismus im Ganzen.
Ein Militärarzt der Roten Armee untersucht einen Überlebenden von Auschwitz.
tagesschau.de: Wo waren Sie am 27. Januar 1945?
Bejarano: Ich war zu der Zeit nicht mehr in Auschwitz. Die Nazis hatten nach sogenannten "Mischlingen" gesucht - und ich hatte eine christliche Großmutter. Daher wurde ich nach sieben Monaten in Auschwitz mit 70 weiteren Frauen, die auch "arische" Eltern oder Großeltern hatten, in das KZ Ravensbrück gebracht. Es war ein schlimmes Straflager für Frauen, aber es war kein Vernichtungslager.
tagesschau.de: Wann wurden Sie befreit und wie haben Sie diesen Tag erlebt?
Bejarano: Ich wurde im Mai 1945 befreit. Wir waren auf einem Todesmarsch in Mecklenburg unterwegs - mit sieben Frauen, die ebenfalls von Auschwitz nach Ravensbrück gebracht worden waren. Wir wussten nicht, wohin sie uns führen wollten und hörten dann einen SS-Mann zum anderen sagen, es dürfe nicht mehr geschossen werden. Da entschlossen wir uns, die Kolonne zu verlassen. Nacheinander sind wir in einen Wald geflüchtet. Wir sind durch die Gegend geirrt und kamen schließlich zu einem Bauern, bei dem wir in der Scheune übernachten durften. Am nächsten Morgen sagte der Bauer zu uns: "Wenn ihr nach links geht, sind da die Amerikaner, wenn ihr nach rechts geht, kommt ihr zu den Russen." Doch wir mussten uns nicht mehr entscheiden, denn es tauchten bereits zwei amerikanische Panzer auf. Wir zeigten den Soldaten die tätowierten Nummern auf unseren Unterarmen.
Die Soldaten hievten uns auf die Panzer und fuhren mit uns nach Lübz. Dort luden sie uns in ein Restaurant ein. Ich und eine Freundin konnten Englisch sprechen und so berichteten wir über unsere Erlebnisse - auch über das Mädchenorchester in Auschwitz. Bald darauf brachte ein Soldat ein Akkordeon und sagte, jetzt wollten wir doch ein bisschen singen. Später hörten wir draußen einen großen Krach: Soldaten der Roten Armee kamen in das Dorf und schrien, Hitler sei tot und der Krieg sei aus. Russische und amerikanische Soldaten feierten gemeinsam und verbrannten ein großes Bild von Hitler; ich spielte dazu Akkordeon. Es war fantastisch.
"Ich hatte noch nie ein Akkordeon in der Hand"
tagesschau.de: Vor der Befreiung, vor den Todesmärschen und Ravensbrück war Auschwitz. Gab es dort so etwas wie einen Alltag?
Bejarano: Natürlich, es gab einen Alltag, einen sehr schrecklichen. Wir haben gearbeitet: Am Anfang musste ich Steine schleppen. Von morgens um sieben bis abends um sieben Uhr. Die Steine waren unheimlich schwer und ich war damals schon sehr klein und zierlich. Daher musste ich unbedingt da weg - und hatte Glück. Eines Abends suchte eine andere Gefangene nach Frauen, die ein Instrument beherrschten. Da meldete ich mich sofort und sagte, dass ich Klavier spielen könne. Das gab es in Auschwitz aber nicht. Sie bot mir an als Alternative das Akkordeon an. Ich sollte darauf den Schlager "Du hast Glück bei den Frauen Bel Ami" spielen. Ich hatte noch nie ein Akkordeon in der Hand gehabt und log daher, ich hätte schon länger nicht mehr geübt und bräuchte ein paar Minuten, um mich einzuspielen.
In einer Ecke der Funktionsbaracke probierte ich das Instrument aus. Die rechte Hand war kein Problem, denn die Tastatur ist wie beim Klavier. Doch von den Bässen auf der linken Hand hatte ich keine Ahnung. Ein Knopf auf dem Akkordeon war gekennzeichnet, das war C-Dur - und so konnte ich die anderen Bässe nach und nach herleiten. Ich spielte den Schlager schließlich vor - und wurde in das Orchester aufgenommen. Sonst wäre ich elendig zugrunde gegangen.
tagesschau.de: Zu welchen Anlässen ließ die SS in Auschwitz ein Orchester spielen?
Bejarano: Wir mussten am Tor stehen und spielen, wenn die Arbeitskolonnen aus dem Lager marschierten und abends wieder zurückkamen. Später ließ sich die SS einfallen, dass wir spielen mussten, wenn neue Transporte aus ganz Europa auf besonderen Gleisen ankamen. Wir wussten: Diese Menschen aus den Zügen gehen sofort in die Gaskammer. Die Menschen winkten uns noch zu und dachten wohl, da wo die Musik spielt, könne es nicht so schlimm sein.
tagesschau.de: Noch 70 Jahre später spielt Musik eine große Rolle in ihrem Leben, sie treten mit der Microphone Mafia auf. Was ist das Besondere an dieser Rap-Band?
Bejarano: Bei der Microphone Mafia stehen drei Generationen und drei Religionen gemeinsam auf der Bühne. Die Band besteht unter anderem aus einem Muslim, einem Katholiken - und ich sowie mein Sohn sind Juden. Wir wollen Vorbild sein für alle Menschen, die denken, man könne mit Menschen, die anders sind, nicht harmonieren. Wir harmonieren nämlich ganz wunderbar.
tagesschau.de: Angesichts der "Pegida"-Demonstrationen und aktuellen Debatten in Deutschland erscheint Harmonie zwischen verschiedenen Religionen und unterschiedlichen Menschen derzeit eher ein frommer Wunsch zu sein.
Bejarano: Man darf den Mut nie aufgeben. Man muss hoffen, dass es irgendwann keine Ausländerfeindlichkeit mehr gibt. Die ist hier in Deutschland ziemlich groß, was ich überhaupt nicht verstehen kann. Es gibt leider einen Rechtsruck - auch in anderen Ländern. Ich bin wirklich kein pessimistischer Mensch, doch die momentane Zeit finde ich wirklich sehr, sehr schlecht.
tagesschau.de: Wie reagieren junge Menschen auf ihre Lesungen?
Bejarano: Es gibt sehr viele junge Menschen, die sehr offen sind. Und an den Schulen hat sich viel geändert. Ich besuche seit mehr als 20 Jahren Schulklassen - und in den ersten Jahren war es nicht leicht, überhaupt in die Schulen zu kommen. Da gab es noch Direktoren, die meinten, das Thema Holocaust sei tabu. Das ist heute viel besser. Wir haben Lehrer und Lehrerinnen, die sich sehr für die Geschichte und das Erinnern einsetzen. Sie laden die wenigen Zeitzeugen ein, die es noch gibt. Das ist eine großartige Sache.
Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de