Wahlen in EU und Bremen "Rot-Rot-Grün hätte Signalcharakter"
Eine starke Rechte, zwei erodierende Volksparteien: Das Regieren in EU und Deutschland wird konfliktreicher, meint Politologe Manow im tagesschau.de-Interview. Hierzulande dürfte spätestens im Herbst alles anders werden.
tagesschau.de: Für die SPD war der gestrige Wahlabend doppelt bitter: Bei der Europawahl nur noch drittstärkste Kraft, in Bremen das erste Mal seit mehr als sieben Jahrzehnten nur noch auf dem zweiten Platz. Wird Andrea Nahles das überstehen?
Philip Manow: Das kommt darauf an, über welchen Zeithorizont wir reden. Zunächst wird sie wohl im Amt bleiben. Das schlechte Abschneiden der SPD in Europa und auch in Bremen kam nicht überraschend. Die Probleme liegen aber tiefer als allein beim Personal. Es geht um strukturelle Probleme, um längerfristige Verschiebungen in den Wählermilieus, das kann man nicht an einzelnen Personen festmachen. Insofern glaube ich nicht, dass es jetzt einen schnellen Wechsel geben wird. Im Herbst aber will die SPD ja ohnehin eine Zwischenbilanz über die Große Koalition ziehen. Da ist es sehr wahrscheinlich, dass das auch mit einer personellen Neuaufstellung einhergeht.
Philip Manow ist Professor für Vergleichende Politische Ökonomie an der Universität Bremen. Vor kurzem ist sein Buch "Die Politische Ökonomie des Populismus" erschienen, in dem er die populistischen Bewegungen in ganz Europa untersucht.
"Zwei ehemals große Parteien erodieren"
tagesschau.de: Wie werden sich die Wahlergebnisse auf die Große Koalition auswirken?
Manow: Es wird sicher spannungs- und konfliktreicher werden. Die beiden Partner werden wohl noch stärker versuchen, sich voneinander abzusetzen. Die Parteilinke der SPD hat ja schon heute Morgen ein Positionspapier vorgelegt, was sich aus ihrer Sicht alles ändern muss und welche Gesetzesvorhaben unbedingt bis zum Herbst durchgesetzt werden müssen. Auch in der CDU wächst der Druck, sich zu profilieren, auch sie hat ja deutlich verloren. Wir haben es hier mit zwei ehemals großen Parteien zu tun, denen wir momentan beim Erodieren zuschauen können. Das alles macht die Regierungsarbeit nicht einfacher.
tagesschau.de: Die Grünen hingegen - zumindest in Deutschland - strotzen vor Kraft. Was wird ihnen das jetzt in der EU nützen?
Manow: Der Erfolg der Grünen bei der Europawahl ist ein deutsches Phänomen. Wenn wir insgesamt auf das Europaparlament schauen, haben die Grünen zwar Stimmenzuwächse, aber die sind hauptsächlich auf die deutschen Ergebnisse zurückzuführen. Insgesamt liegt die europäische Grünenfraktion/EVA bei etwas mehr als neun Prozent. Das ist keine sonderlich beeindruckende Zahl. Das heißt, die Politik im EU-Parlament wird aufgrund dieses Ergebnisses jetzt nicht automatisch grüner.
"Kompromisse werden schwieriger"
tagesschau.de: Wie verschiebt sich das Kräfteverhältnis insgesamt im Europäischen Parlament?
Manow: Bemerkenswert ist, wie ungleich die verschiedenen Parteien beziehungsweise Fraktionen in den einzelnen Ländern abgeschnitten haben. Die deutschen Grünen dominieren nun die Fraktion der europäischen Grünen. Gleichzeitig ist der Anteil der deutschen Sozialdemokraten und deutschen Christdemokraten an den jeweiligen Fraktionen S&D und EVP deutlich zurückgegangen. Der französische Anteil an der ALDE ist sehr stark gestiegen.
Das heißt, die einzelnen Fraktionen werden es schwerer haben, übergreifend Kompromisse zu bilden, weil wir sehr unterschiedlich starke nationale Interessen bei den jeweiligen Gruppierungen haben. Ganz zu schweigen davon, dass die Orbans und Salvinis aus der rechten Ecke ja ebenfalls stark geworden sind, was die Mehrheitsfindung auch schwieriger machen wird.
"Gegenmobilisierung gegen die Rechtspopulisten"
tagesschau.de: Der von vielen befürchtete Rechtsruck im EU-Parlament ist aber ausgeblieben. Woran lag das?
Manow: Das Gerede von dem großen Rechtsruck war vor allem Propaganda der rechten Kräfte selbst. Beispielsweise von Salvini, der die Hoffnung hatte, stärkste Fraktion zu werden und dann sozusagen sein Zerstörungswerk der EU von innen her anrichten zu können. Das war aber von vornherein mehr Rhetorik als Realismus. Die Prognosen gaben das nicht her. Trotzdem ist die rechtspopulistische Fraktion stärker geworden. Und auch die AfD hat insgesamt zwar nicht so stark zugelegt, in absoluten Zahlen haben sie ihre Wähler aber verdoppelt.
Dass die Rechtspopulisten nicht noch stärker geworden sind, hat wohl damit zu tun, dass es im Wahlkampf sehr stark um Europa selbst ging. Früher waren Europawahlen häufig nationale Protestwahlen, wo viele ihrer eigenen Regierung einen Denkzettel verpassen wollten. Diesmal ging es tatsächlich um europäische Fragen, was auch zu der sehr stark erhöhten Wahlbeteiligung geführt hat. Die Rhetorik von Salvini und Co hat also vor allem zu einer Gegenmobilisierung geführt.
"Grüne in Bremen werden Preise nach oben treiben"
tagesschau.de: In Bremen wurde ein neues Parlament gewählt. Die CDU ist erstmals an der SPD vorbeigezogen. Wie geht es dort jetzt weiter?
Manow: Ich denke, dass Rot-Rot-Grün die wahrscheinlichste Option sein wird. Die Grünen versuchen zwar noch, sich alle Optionen offen zu halten und wollen auch Jamaika sondieren, wahrscheinlich um die Preise ein bisschen nach oben zu treiben. Aber wenn man sich die Orientierung des Landesverbandes der Grünen anschaut, wird es wahrscheinlich auf Rot-Rot-Grün hinauslaufen.
tagesschau.de: Könnte diese Entscheidung Auswirkungen auf die Bundespolitik haben? Immerhin werden ja auch im Bund seit kurzem wieder Gespräche über R2G geführt.
Manow: Bremen könnte da als Experimentierfeld wichtig werden. Neue Koalitionskonstellationen für den Bund wurden schon immer zuerst in den Ländern ausprobiert. Die rot-rot-grüne Konstellation gab es natürlich schon, aber abgesehen von Berlin noch nie im Westen. Insofern hätte das einen anderen Signalcharakter.
"Auch im Bund wird es neue Konstellationen geben"
tagesschau.de: Sie halten also Rot-Rot-Grün im Bund nach der nächsten Wahl für möglich?
Manow: Wenn es jetzt im Bund Neuwahlen gäbe, wäre es ja womöglich eher eine grün-rot-rote Koalition. Ob das wiederum für die SPD besonders attraktiv ist, Juniorpartner der Grünen zu sein, ist fraglich. Es wird aber auch im Bund zu neuen Konstellationen kommen müssen. Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass man nochmal Jamaika versucht oder - wenn es reicht - Schwarz-Grün.
tagesschau.de: Dazu müsste aber auch die Union wieder erfolgreicher werden. Geht das mit der jetzigen Aufgabenteilung zwischen Angela Merkel als Kanzlerin und Annegret Kramp-Karrenbauer als Parteichefin?
Manow: Auch da erwarte ich eine Entscheidung im Herbst. Kramp-Karrenbauer muss irgendwann ihren Machtanspruch manifest machen, um eine Chance zu haben, exekutive Erfahrung zu sammeln. Wenn Merkel dann zurücktritt, ist es faktisch ausgeschlossen, dass die SPD eine neue Kanzlerin unterstützt. Es läuft also wohl auf vorgezogene Neuwahlen hinaus.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.