Asylpolitik in der EU Wer will was in der Flüchtlingsfrage?
Mehr als eine Million Menschen suchten im vergangenen Jahr in EU-Ländern Schutz vor Verfolgung. Doch wie diese Menschen verteilt werden sollen, ist offen. Die Positionen der Mitgliedsstaaten sind verhärtet. Ein Überblick.
Es ist die höchste Zahl, die das European Asylum Support Office (EASO) seit seinem Bestehen gemessen hat: Mehr als 1,3 Millionen Menschen haben im vergangenen Jahr in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einen Asylantrag gestellt. Eine enorme Herausforderung für den Kontinent. Längst werden Grenzen wieder kontrolliert und Österreich kündigte gerade eine Obergrenze für Asylbewerber an.
Die Krise ist zur Gefahr für die Einheit Europas geworden, denn die Meinungen, wie mit dieser großen Menschenzahl umgegangen werden soll, gehen stark auseinander. Zwei Ländergruppen stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber. Die eine, angeführt von Deutschland, setzt auf eine Verteilung der Flüchtlinge nach festen Quoten auf alle europäischen Länder. Die andere Gruppe, bestehend vor allem aus den Staaten Osteuropas, lehnt dies vehement ab. Welches Land gehört zu welcher Gruppe? Und wer steht zwischen den Fronten?
Die Befürworter einer europaweiten Flüchtlingsquote
Es sind vor allem zwei Arten von Ländern, die sich für einen europäischen Verteilungsschlüssel einsetzen: Die, in denen die meisten Flüchtlinge zuerst europäischen Boden betreten, und die, in denen die meisten Flüchtlinge leben wollen. So entstand eine ungewöhnliche Allianz: Deutschland, Schweden und Österreich ziehen mit Griechenland, Italien und den Mittelmeerinseln Malta und Zypern an einem Strang.
Ein Blick auf die Zahl der in diesen Ländern gestellten Asylanträge im vergangenen Jahr lässt ahnen, warum. Kein Land nahm im vergangenen Jahr mehr Menschen auf als Deutschland. In Schweden lag die Zahl im Verhältnis zur Einwohnerschaft sogar noch höher. In Griechenland wiederum kamen 2015 zeitweise mehrere tausend Menschen am Tag an, die vor allem über die Türkei nach Europa ausreisten und sich über die Balkanroute auf den Weg nach Zentraleuropa machten. In Italien, Malta und Zypern erinnert man sich wiederum noch gut an die Zeiten, als die Flüchtlinge versuchten, über ihre Länder in die Europäische Union zu kommen. "Derzeit kommen die Menschen über den Westbalkan, aber das kann sich wieder ändern", sagt Steffen Angenendt, Leiter der Forschungsgruppe Globale Fragen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), zu tagesschau.de.
Luxemburg und Irland wiederum unterstützen die Gruppe mehr aus einem Gefühl der europäischen Solidarität heraus. Vor allem der Fall Irland ist bemerkenswert - das Land hätte das Recht, an der gemeinsamen europäischen Asylpolitik nicht teilzunehmen. So ist des im Vertrag von Amsterdam festgelegt, in dem 1997 unter anderem die gemeinsame Asylpolitik der EU geregelt wurde. Trotzdem unterstützt die Regierung in Dublin die Forderung nach festen Verteilungsquoten.
Land | Gestellte Asylanträge 2015* | Positive Asylentscheidungen 2015* |
---|---|---|
Deutschland | 476.510 | 140.910 |
Griechenland | 10.725 | 3395 |
Irland | 2770 | 260 |
Italien | 77.970 | 19.790 |
Luxemburg | 1640 | 120 |
Malta | 1495 | 800 |
Österreich | 68.950 | keine Angabe |
Schweden | 148.625 | 22.695 |
Zypern | 1800 | 1215 |
*Quelle: Eurostat, vorläufige Zahlen, teils noch nicht für das ganze Jahr verfügbar.
Die Gegner einer europaweiten Flüchtlingsquote
Vor allem die Staaten Ost- und Südeuropas, die nach 2004 der Europäischen Union beigetreten sind, wehren sich gegen einen verpflichtenden Verteilungsschlüssel. Doch auch Spanien und Portugal lehnen ihn ab. Es sind Länder, die von der Flüchtlingskrise in der Regel relativ wenig betroffen sind. In den meisten wurden im vergangenen Jahr nur Asylanträge im dreistelligen Bereich gestellt - die Zahl der positiven Bescheide lag in vielen Fällen noch deutlich darunter.
Ein besonderer Fall in dieser Gruppe ist Ungarn. Fast 180.000 Menschen beantragten dort 2015 Asyl - anerkannt wurden bislang nur 350. Bis zum Sommer reisten noch Tausende Asylbewerber in das Land ein, doch nachdem die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban im September die Grenze zu Serbien und im Oktober die zu Kroatien sperrte und die Weiterreise nach West- und Nordeuropa erschwerte, ging die Zahl deutlich nach unten.
Die Situation in Ungarn machen Beobachter auch für Ablehnung der osteuropäischen Staaten in der Quotenfrage verantwortlich. Die Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel im September, Tausende Flüchtlinge nach Deutschland zu holen, die am Bahnhof von Budapest gestrandet waren, wird in diesen Ländern als Auslöser dafür angesehen, dass sich weitere Menschen auf den Weg nach Europa machten. Die Flüchtlingskrise sei deshalb ein deutsches Problem, so die Meinung in den meisten Hauptstädten Osteuropas. Eine feste Verteilungsquote wird als Zwangsmaßnahme angesehen.
Erst 272 Flüchtlinge verteilt
Dieses Gefühl wurde im Herbst noch verstärkt, als der Europäische Rat gegen die Stimmen vieler osteuropäischer Länder beschloss, 160.000 Flüchtlinge nach festen Quoten in die europäischen Staaten zu schicken. Die Umsetzung dieser Vereinbarung kommt nicht vorwärts - gerade einmal 272 Menschen wurden bisher verteilt. Ungarn und die Slowakei klagen gegen die Entscheidung vor dem Europäischen Gerichtshof. "In den Staaten Osteuropas gibt es das Gefühl, dass Deutschland die europäische Solidarität aufgekündigt hat", so SWP-Experte Angenendt. "Ich halte das für eine Verdrehung der Wirklichkeit, aber es blockiert die Suche nach einer Lösung."
Die Front der Quotengegner wurde durch den Regierungswechsel in Polen noch verstärkt. Spanien und Portugal wiederum haben es in der Vergangenheit erreicht, ihre Grenzen für Flüchtlinge effektiv zu schließen. Sollte es zu einem Umverteilungsmechanismus kommen, müssten diese Länder sich wieder auf höhere Asylbewerberzahlen einstellen.
Land | Gestellte Asylanträge 2015* | Positive Asylentscheidungen 2015* |
---|---|---|
Bulgarien | 18.680 | 4850 |
Estland | 220 | 60 |
Kroatien | 190 | 35 |
Lettland | 330 | 10 |
Litauen | 320 | 85 |
Polen | 11.040 | 555 |
Portugal | 715 | 135 |
Rumänien | 1105 | 360 |
Slowakei | 165 | 65 |
Slowenien | 275 | 45 |
Spanien | 10.295 | 635 |
Tschechien | 1240 | 365 |
Ungarn | 176.900 | 350 |
*Quelle: Eurostat, vorläufige Zahlen, teils noch nicht für das ganze Jahr verfügbar.
Die Unentschlossenen
Hier versammeln sich Länder mit einer langen europäischen Tradition, die in der Flüchtlingsfrage jedoch hin- und hergerissen agieren. Beispiel Frankreich: Im vergangenen Frühjahr lehnte die Regierung eine Quoten-Lösung noch ab. Im September änderte Präsident François Hollande jedoch seine Meinung. Doch nach den Anschlägen von Paris im November liegt das Thema auf Eis. Auch Belgien, die Niederlande und Finnland sind skeptisch.
Alle diese Länder haben gemeinsam, dass es eine starke rechtspopulistische Partei gibt, die der Regierung in der Flüchtlingsfrage Druck macht - in Finnland sitzen die "Wahren Finnen" sogar mit am Kabinettstisch und stellen den Außenminister. In Frankreich wächst die Unterstützung für den Front National, in den Niederlanden für die Freiheitspartei des Rechtspopulisten Geert Wilders und in Belgien blockieren sich die Parteien seit Jahren immer wieder. "Eigentlich ist diesen Ländern klar, dass es eine europäische Lösung geben muss", so Angenendt. "Doch die innenpolitische Lage schränkt ihren Handlungsspielraum stark ein."
Druck von rechts: Front-National-Chefin Marine Le Pen
Land | Gestellte Asylanträge 2015* | Positive Asylentscheidungen 2015* |
---|---|---|
Belgien | 39.445 | 7330 |
Finnland | 30.515 | 1060 |
Frankreich | 58.900 | 14.590 |
Niederlande | 35.180 | 9785 |
*Quelle: Eurostat, vorläufige Zahlen, teils noch nicht für das ganze Jahr verfügbar.
Die Außenstehenden
Der Vertrag von Amsterdam gesteht nicht nur Irland Sonderrechte zu, wenn es um die gemeinsame Asylpolitik der Europäischen Union geht. Auch das Vereinigte Königreich und Dänemark müssen sich an europäische Beschlüsse bei diesem Thema nicht halten. Das war 1997 eine Voraussetzung dafür, dass diese Staaten dem Vertrag überhaupt zustimmten. Anders als in Dublin sehen die Regierungen in London und Kopenhagen keinen Anlass dafür, sich an einer europäischen Lösung zu beteiligen. "Durch ihre isolierte Lage können diese Länder es sich erlauben, ihre strikte Ablehnung durchzuhalten. Sie werden nicht nachgeben", erklärt Angenendt.
Land | Gestellte Asylanträge 2015* | Positive Asylentscheidungen 2015* |
---|---|---|
Dänemark | 13.240 | 7565 |
Großbritannien | 32.090 | 10.720 |
*Quelle: Eurostat, vorläufige Zahlen, teils noch nicht für das ganze Jahr verfügbar.
Sind diese verschiedenen Positionen zusammenzubekommen? Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, derzeit EU-Ratsvorsitzender, will es auf jeden Fall versuchen. In den kommenden sechs bis acht Wochen müsse eine Einigung her, sagte er - nicht nur über die Frage der Verteilung, sondern auch bei der Begrenzung der Zahl der Flüchtlinge. Sollte das nicht gelingen, habe er noch einen "Plan B" in der Schublade, teilte Rutte mit. Doch wie dieser aussehen soll, verriet er nicht.