Interview zu Misshandlung von Flüchtlingen "Private Betreiber sind nicht das Problem"
Von Subunternehmern misshandelte Flüchtlinge in einer Notunterkunft - dieser Vorwurf sorgt für Aufregung. Neu sei das Problem jedoch nicht, sagt Flüchtlingsforscher Wendel im tagesschau.de-Interview. Verantwortlich sei nicht alleine das Personal. Es fehle an Aufsicht.
tagesschau.de: Ist es gängig, dass Flüchtlingsunterkünfte von privaten Unternehmen betrieben werden?
Kay Wendel: Ja, das ist sehr häufig. Zwar sind die Regelungen von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, aber in den meisten Bundesländern werden die Gemeinschaftsunterkünfte privat betrieben. Anders handhaben es nur Bayern und Baden-Württemberg, dort werden die Unterkünfte für Flüchtlinge von den Landkreisen selbst betrieben. In Bayern ist das Personal immer direkt bei der Bezirksregierung angestellt. Auch die privaten Betreiber unterliegen immer der Aufsicht der kreisfreien Städte oder der Landkreisverwaltungen. Und die sind dann auch verantwortlich, dass dort solche Misshandlungen nicht vorkommen.
Kay Wendel hat an der Freien Universität Berlin Politikwissenschaften studiert und arbeitet seit 2003 beim Flüchtlingsrat Brandenburg. Im Auftrag von Pro Asyl hat er eine umfangreiche Studie zur Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland veröffentlicht.
tagesschau.de: Ist die Gewährleistung von Sicherheit in solchen Unterkünften nicht eine hoheitliche Aufgabe, die von Beamten statt von privaten Wachleuten übernommen werden sollte?
Wendel: Die privaten Betreiber sind nicht das Hauptproblem. Das Problem ist die fehlende Aufsicht. Es muss verbindliche Mindeststandards geben, die auch durchgesetzt werden. Eine Aufsicht müsste die Heime regelmäßig kontrollieren und es muss auch im Flüchtlingsbereich ein Beschwerde-Management geben. In allen anderen sozialen Bereichen ist das gang und gäbe. Im Kinder- und Jugendhilfebereich und auch in Altersheimen gibt es das, doch Flüchtlinge werden rechtlos gehalten. Die jetzigen Vorfälle hätten verhindert werden können, wenn Flüchtlinge sich rechtzeitig an eine Ombudsperson hätten wenden können, die diese Fälle aufnimmt und ihnen nachgeht. Doch so etwas gibt es in ganz Deutschland bislang nicht.
"Versagen der Landesregierungen"
tagesschau.de: Warum funktionieren Aufsicht und Kontrolle von Mindeststandards nicht?
Wendel: Das liegt am Versagen der Landesregierungen, die Mindeststandards verbindlich einzuführen. Nur etwa die Hälfte der Bundesländer hat überhaupt Mindeststandards beim Betrieb von Gemeinschaftsunterkünften, und davon hat noch mal die Hälfte nur empfehlenden Charakter. Das heißt, es ist den Landkreisen überlassen, ob sie sich daran halten. Außerdem ist nur in wenigen Bundesländern geregelt, dass bei Vertragsverletzungen seitens der Betreiber Vertragsstrafen drohen.
Dass es keine funktionierende Aufsicht gibt, hat auch Kostengründe. In den meisten Bundesländern reicht das Geld, das die Landkreise vom Land für die Flüchtlingsunterbringung bekommen, nicht aus. Daher machen die Landkreise dann Ausschreibungen, bei denen der billigste Betreiber den Zuschlag bekommt. Dann haben sie auch kein Interesse Unregelmäßigkeiten zu kontrollieren, denn das würde wieder Kosten verursachen.
tagesschau.de: Sind die Fälle in Nordrhein-Westfalen Einzelfälle oder könnten solche Misshandlungen in allen Flüchtlingsunterkünften in Deutschland passieren?
Wendel: Das sind keine Einzelfälle und es ist auch nicht neu: Wir hatten in Brandenburg vor längerer Zeit mal Flüchtlingsheime, bei denen im Wachschutz Nazis angestellt waren, die auch bei Gewalttaten gegen Ausländer aufgefallen waren.
Solche Misshandlungen können überall passieren und das liegt am System der Gemeinschaftsunterkünfte. Dort sind die Flüchtlinge nicht nur dem Personal ausgeliefert, sondern es kommt auch untereinander zwangsläufig zu Konflikten, auch zwischen verschiedenen Flüchtlingsgruppen. Das Leben in solchen Unterkünften ist permanenter Stress, es gibt Vandalismus, es gibt überhaupt keine Privatsphäre, manchmal werden Flüchtlinge zu viert oder zu sechst in einem Zimmer untergebracht. Deshalb treten viele Flüchtlingsorganisationen schon seit Jahren für eine möglichst schnelle Unterbringung in Wohnungen ein. Die muss natürlich durch neue Konzepte begleitet werden.
"Kein Wunder, dass Misshandlungsfälle jetzt auftreten"
tagesschau.de: Ist es nicht auch den rasch wachsenden Flüchtlingszahlen und dem Zeitdruck geschuldet, dass die Landkreise es nicht schaffen, eine gute Unterbringung für Flüchtlinge zu organisieren?
Wendel: Es gab von Politikern in NRW und in Brandenburg in der letzten Zeit Aussagen, dass angesichts des angeblichen Unterbringungsnotstands Mindeststandards nicht mehr berücksichtigt werden könnten, die könne man sich jetzt nicht mehr leisten. Insofern ist es auch kein Wunder, dass Misshandlungsfälle jetzt auftreten und unseriöse Betreiber oder outgesourcte Wachschutzfirmen sich so etwas leisten.
Allerdings halten wir den sogenannten Unterbringungsnotstand für inszeniert. Da werden an manchen Orten Flüchtlinge in Zelten oder Containern untergebracht, um auch für die Medien bildlich eine Überfüllung zu zeigen. Die Flüchtlingszahlen steigen nicht erst seit kurzem und mit einer klugen vorausschauenden Politik hätte man das Problem verhindern können. Manche Länder bekommen das ja auch hin, indem sie Flüchtlinge vermehrt in Wohnungen unterbringen, wo so etwas natürlich nicht passieren könnte. Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Schleswig-Holstein sind hier Vorreiter, ganz am Ende der Skala liegen Brandenburg, Sachsen und Baden-Württemberg.
tagesschau.de: Aber wäre die Unterbringung in Wohnungen überhaupt überall möglich? In Berlin beispielsweise, wo der Wohnungsmarkt sehr angespannt ist, dürfte das doch schwierig sein.
Wendel: In der Tat ist Berlin hier in einer schwierigen Lage und es ist nicht einfach, Wohnungen für Flüchtlinge zu finden. Aber meine Studie hat gezeigt, dass andere Länder mit angespanntem Wohnungsmarkt es auch schaffen. In Hamburg beispielsweise waren im vergangenen Jahr beinahe 90 Prozent der neu geschaffenen Unterbringungen für Flüchtlinge in Wohnungen. Und dort ist die Wohnungsnot nicht geringer als in Berlin - im Gegenteil.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de