Anti-AKW-Bewegung "Eine gewisse Genugtuung"
Sie haben jahrzehntelang für das Aus der Atomenergie gekämpft. Jetzt hat die Anti-AKW-Bewegung ihr Ziel erreicht. Aber ist sie damit auch zufrieden?
Ein Hubschrauber kreist über dem Hof von Christine Scheer und ihrem Mann Heinrich Voß. Die 70-Jährige sitzt in der Sonne in ihrem Garten und zuckt zusammen. Das Propellergeräusch erinnert sie an den 28. Februar 1981. Minus zehn Grad, über Norddeutschland fegt ein eisiger Ostwind hinweg. Trotzdem sind 100.000 Menschen nach Brokdorf gekommen - zur bisher größten Anti-Atomkraft-Demo in Deutschland.
Seit Beginn der Bauphase des AKW Brokdorf in den 1970er-Jahren finden dort immer wieder Demonstrationen statt. Das Grundstück des Ehepaars grenzt an den Standort des Kernkraftwerks. "Dieser Tag ist für mich ein traumatisches Erlebnis geblieben", sagt Scheer. "Die Menschen sind einfach an den Absperrungen vorbei und übers gefrorene Land bis hier gelaufen. Zu Tausenden." Dann habe sich eine Stimmung auf beiden Seiten aufgebaut und "zum Schluss, als sich der Großteil der Demonstration schon aufgelöst hat, sind die Polizeikräfte mit Hubschraubern angeflogen gekommen und haben die Rotorblätter schräg gestellt, und dann flogen die Leute durch die Luft", so Scheer.
Angst vor Unfall und Strahlung
Ihren Mann Heinrich, einen Landwirt, lernt sie während der ersten Proteste kennen. Die Demos und die Organisation drumherum prägen viele Jahrzehnte ihres Lebens. Die Angst vor einem möglichen Unfall, die Sorge vor der Strahlung motiviert ihren Widerstand - und nicht zuletzt die deutsche Vergangenheit.
Wir lassen uns jetzt nicht wieder alles bieten. Wir wollen nachher nicht gefragt werden: Warum hast du nichts gemacht? Und das denke ich, ist für uns was ganz Wichtiges. Wir wollen nie wieder was übergestülpt kriegen, wo nachher irgendwas zugrunde geht.
Unweit von Scheer und Voß entfernt wohnt Karsten Hinrichsen, viele nennen ihn den "Rebellen von Brokdorf". Der mittlerweile 80-Jährige hat von seinem Häuschen am Deich uneingeschränkte Sicht auf das Kernkraftwerk. Jahrelang hat der Meteorologe geklagt - und verloren. Er erinnert sich, dass der Widerstand in Brokdorf, der 1000-Seelen-Gemeinde, überschaubar war.
Heinrich Voß und Christine Scheer vor dem AKW Brokdorf: Die Proteste haben sie geprägt.
"Nie eine homogene Bewegung"
Ein großer Teil der Bevölkerung unterstützte den Bau des Kraftwerks - wegen der vielen Arbeitsplätze etwa. "Das war nicht leicht hier vor Ort, weil natürlich jeder die Gewerbesteuereinnahmen gesehen hat. Wenn man durchs Dorf fährt, sieht man, welcher Reichtum hier herrscht. Alles das Neueste, das Größte, das Schwimmbad schön warm. Also wenn man nicht Freunde hat, Gleichgesinnte, dann wurde das einem schwer gemacht", so Hinrichsen.
Doch dann kamen immer mehr Gleichgesinnte, vor allem aus Hamburg, an die Unterelbe. Dieser Anti-Atomkraft-Kampf über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg mache die Bewegung in Deutschland weltweit einzigartig, sagt Historiker Frank Uekötter. "Die Anti-AKW-Bewegung in Deutschland war nie eine homogene Bewegung und das war in gewisser Weise auch ihr Erfolgsgeheimnis."
Viele verschiedene Menschen seien zusammengekommen, zum Teil Leute mit einer recht radikalen Agenda, auch das als ein Produkt der 1968er-Bewegung. Studenten seien wichtig für diese Bewegung gewesen, aber auch ganz normale Bürger, Bauern. "Und dieser Mix hat es eigentlich immer schwer gemacht, die Bewegung zu spalten oder zu bekämpfen", so Historiker Uekötter.
Whyl: Winzer und Studenten für dieselbe Sache
Wie vielseitig die Anti-AKW-Bewegung in Deutschland ist, zeigt sich in ihrer Keimzelle. 800 Kilometer südlich von Brokdorf entfernt, im baden-württembergischen Whyl. Hier kämpften Winzer und Studenten der Uni Freiburg für die gleiche Sache: Sie besetzten 1975 den Bauplatz für das geplante AKW. Die Polizei räumte das Gelände mit Wasserwerfern und Hundestaffeln. Doch der Widerstand blieb - und war schließlich erfolgreich: Fast 20 Jahre später wurde das AKW-Projekt eingestellt.
Dass die Bürger mitreden wollen, wenn es um große Projekte geht, das war für das Land neu, sagt Historiker Uekötter. Bürgerinitiativen und Bürgerpartizipation waren bis dato ungewöhnlich. "Dass man über Infrastrukturprojekte erstmal ergebnisoffen diskutieren muss, das ist heute eine demokratische Selbstverständlichkeit, aber das verdanken wir nicht zuletzt der Atomdebatte."
Viele Probleme bleiben ungelöst
Das AKW Brokdorf wurde bereits 2021 heruntergefahren, nun gehen auch die drei verbliebenen Meiler auf deutschem Boden vom Netz. Doch wenn Scheer und ihr Mann von ihrem Garten auf den ungeliebten Nachbarn blicken, haben sie dennoch kein unbeschwertes Gefühl. "Es geht uns beim Anblick des AKW nach wie vor schlecht. Natürlich etwas besser, jetzt, wo es nicht mehr in Betrieb ist, aber die Probleme sind ja nicht gelöst. Es gibt ja kein Endlager, das bleibt alles dort liegen", sagt Scheer.
Und auch der "Rebell von Brokdorf" ist vom jahrzehntelangen Kampf gegen die Atomkraft etwas müde geworden. "Eine gewisse Freude und Genugtuung ist schon da, aber Sieg? Im Grunde sind es 45 Jahre Verlust. Hätten wir damals angefangen mit den erneuerbaren Energien, wie würden wir da heute dastehen? Super!"
Vor 45 Jahren allerdings waren die Erneuerbaren noch kein Thema - damals war sich die Politik in weiten Teilen einig darüber, dass Atomkraft die Technologie und Energiequelle der Zukunft sei.