Interview

Interview mit dem "Gesundheitsweisen" Wasem "Die Krankenkassen sind im völligen Blindflug"

Stand: 01.10.2008 12:10 Uhr

Am 1. Januar soll der Gesundheitsfonds starten. Zurzeit berät ein Schätzerkreis über die künftige Beitragshöhe für die rund 50 Millionen Beitragszahler. Der dürfte bei mindestens 15,6 Prozent liegen - und weiter steigen, sagt der Gesundheitssökonom Wasem im Gespräch mit tagesschau.de.

Am 1. Januar 2009 soll der Gesundheitsfonds starten. Zurzeit berät ein Schätzerkreis über die künftige Beitragshöhe für die rund 50 Millionen Beitragszahler. Der dürfte bei mindestens 15,6 Prozent liegen, sagt der Gesundheitssökonom Wasem tagesschau.de. Und er rechnet mit weiteren unangenehmen Überraschungen.

tagesschau.de: Die Schätzer rechnen noch hinter verschlossenen Türen. Sie haben einen Kassenbeitrag für die Versicherten von 15,6 oder 15,7 Prozent vorausgesagt. Glauben Sie, dass es dabei bleibt?

Jürgen Wasem: Die Hiobsbotschaften aus der Wirtschaft haben uns in den vergangenen Tagen gezeigt, dass die eigentliche Problematik bei der Berechnung des Kassenbeitrages nicht auf der Ausgabenseite liegt, sondern vielmehr auf der Einnahmeseite. Die dramatische Entwicklung in den USA wird nicht spurlos an uns vorbeiziehen. Und die spannende Frage ist, was die Bundesregierung annimmt, wie die Einnahmen wachsen werden.

tagesschau.de: Im Schatten der Finanzkrise lässt sich nur schwer einschätzen, inwieweit sich Konjunktur, Löhne und Arbeitsmarkt entwickeln. Davon aber hängt der Kassenbeitrag auch ab. Womit müssen die Versicherten rechnen?

Wasem: Je geringer das Einnahmenwachstum der Krankenkassen nächstes Jahr sein wird, umso höher muss der Beitragssatz sein, um die Ausgaben finanzieren zu können. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre kann ich mir kaum vorstellen, dass wir ein Einnahmenwachstum von über anderthalb bis zwei Prozent haben werden. Und dann ist es völlig unrealistisch, dass der Beitragssatz unter 15,6 oder 15,7 Prozent liegen wird.

tagesschau.de: Aber auch die Kosten im Gesundheitssektor steigen stetig – das liegt an immer mehr älteren Menschen und mehr chronisch Kranken, aber auch an den frischen Finanzspritzen für Ärzte, Kliniken und Arzneikosten. Wird das alles nun auf dem Rücken der Versicherten ausgetragen?

Wasem: Es wird auf dem Rücken der Beitragszahler ausgetragen. So weit es um den Beitragssatz an dem Fonds geht, wird das ja in etwa halb und halb geregelt: die Arbeitgeber zahlen ungefähr 45 Prozent und die Arbeitnehmer 55 Prozent. Sobald aber die Kassen Zusatzbeiträge erheben müssen, weil sie mit dem Geld aus dem Fonds nicht auskommen, ist das von den Versicherten alleine zu tragen und die Arbeitgeber sind nicht mehr daran beteiligt. Das ist beispielsweise die Motivation für die Arbeitgeber zu sagen: Wir sollten einen niedrigen Beitragssatz festsetzen.

"Ich bin inzwischen für eine Verschiebung"

tagesschau.de: Nicht nur deshalb ist der Gesundheitsfonds immer noch heftig umstritten - die Reform ist voller Widersprüche. Sie haben deshalb eine Verschiebung gefordert. Die Politik aber drängelt – warum?

Wasem: Die Politik drängelt, weil das eines der Kernstücke der Gesundheitsreform ist. Wenn man da nachgibt, könnte das als politische Niederlage gewertet werden. Warum ich inzwischen für eine Verschiebung bin, ist ganz einfach: Ab 1. Januar wird vieles im Gesundheitssektor zeitgleich neu geregelt werden. Bei vielem können wir die Auswirkungen noch nicht abschätzen – wie zum Beispiel bei den Finanzspritzen für Ärzte und Kliniken. Sprich, die Kassen haben momentan auf der Einnahmen- und auf der Ausgabenseite einen völligen Blindflug. Wenn dann noch zusätzlich der Gesundheitsfonds kommt, ist das schwierig. Also, technisch wäre eine Verschiebung zwar möglich, politisch ist sie aber wohl nicht gewollt.

tagesschau.de: Die Politik predigt Wettbewerb im Gesundheitswesen. Ist der Fonds ein gutes Mittel, um Kosten zu senken, oder führt er eher in ein staatliches Gesundheitswesen?

Wasem: Diesen Vorwurf halte ich für übertrieben. Aber was in Richtung staatlicher Steuerung geht, ist, wie die Zusatzbeiträge erhoben werden können, wenn die Kassen mit dem Geld nicht auskommen. Eine Kasse darf höchstens ein Prozent des beitragspflichtigen Einkommens erheben. Das führt in der Tat zu einem Deckel auf das Gesundheitssystem, den wir bislang nicht hatten, und das führt uns zu einer staatlichen Festlegung des Ausgabenbudgets.

"Die Zahl der Kassen wird sich halbieren"

tageschau.de: Wie wird sich der Fonds auf den Wettbewerb innerhalb der Kassen auswirken?

Wasem: Kurzfristig führt der Gesundheitsfonds dazu, dass die Krankenkassen versuchen werden, an der Kostenschraube zu drehen. Keine will als erste den Zusatzbeitrag erheben, um nicht den Wettbewerbsvorteil zu verlieren.

tagesschau.de: Die ersten Kassen fusionieren bereits. Wie wird der Gesundheitsfonds die Kassenlandschaft verändern?

Wasem: Die Zahl der Kassen wird sich vermutlich halbieren. Das ist aber ein langfristiger Trend: vor 15 Jahren hatten wir noch 1200 Krankenkassen, heute sind es 200. Gerade kleine Kassen haben es im Wettbewerb schwer. Die Anforderungen an das Management wachsen. Wenn es beispielsweise um Rabattverträge geht, haben große Kassen einen Vorteil. Und durch den Risikostrukturausgleich ändert sich auch etwas: Die Kassen mit vielen Kranken bekommen mehr Geld. Kassen, denen es heute gut geht, da sie viele Gesunde haben, verlieren diesen Vorteil.

"Steigender Finanzdruck"

tagesschau.de: Werden Kassen Leistungen kürzen müssen?

Wasem: 98 Prozent der Leistungen sind im Gesetz vorgeschrieben - die können die Kassen gar nicht kürzen. Aber wo sie Gestaltungsspielräume haben, da werden sie sparen. Das bekommt der Patient jetzt schon zu spüren – zum Beispiel werden seit drei, vier Jahren spezielle Verträge mit Ärzten geschlossen, bei denen es um Qualitätsverbesserung geht. Ärzte, Krankenhäuser oder Reha-Kliniken bekommen infolgedessen etwas mehr Geld, weil sie sich verpflichtet haben, mehr Qualität in der Behandlung zu gewährleisten. Diese Verträge werden gerade vielfach gekündigt, weil die Krankenkassen Geld sparen wollen.

tagesschau.de: Werden wir in zehn Jahren über einen Beitragssatz von fast 16 Prozent nur noch müde lächeln?

Wasem: Ja, das denke ich schon. Wenn man sich die Alterung der Bevölkerung ansieht in Verbindung mit dem medizinischen Fortschritt, dann ist davon auszugehen, dass wir einen steigenden Finanzdruck haben werden. Die spannende Frage ist, wie viel wird über den Beitragssatz an den Fonds bestritten und wie viel über die Zusatzbeiträge – das letztere belastet vor allem die Beitragszahler.

Hintergrund

Ziel des Vereins "Die Arche – Christliches Kinder- und Jugendwerk e. V." ist es, Kinder von der Straße zu holen und ihnen sinnvolle Freizeitmöglichkeiten zu bieten. Das Hilfswerk betreibt mittlerweile auch Kindertagesstätten in Hamburg und München. Andere Städte sollen in Zukunft dazu kommen. Die Arbeit der Arche beinhaltet das Angebot eines kostenlosen Mittagessens, individuelle Begleitung der Kinder einschließlich ihrer Familien, Hausaufgabenhilfe sowie das Angebot der Vermittlung des christlichen Glaubens.

Das Interview führte Judith Hinrichs, tagesschau.de.