Holocaust-Überlebende Vielen Opfern bleibt nur Grundsicherung
Viele Überlebende der Shoa müssen bis heute um finanzielle Entschädigung kämpfen. Einige sind von Altersarmut betroffen, weil sie aufgrund ihrer Verfolgungsgeschichte durch alle sozialen Raster fielen.
"Stell Dir vor, sie haben uns verhaftet, weil wir jüdisch sind." So schilderte die fast zehnjährige Berthe Spiegelstein das für sie damals Unglaubliche in einem Brief an ihre Großmutter. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits vor den deutschen Besatzern aus ihrer Heimatstadt Paris in den unbesetzten Teil Frankreichs geflohen. Nur knapp war sie erst einer Erschießung und dann der Deportation nach Auschwitz entkommen.
Heute ist Spiegelstein 88 Jahre alt und lebt in München von Sozialhilfe. "Ich habe kein Zimmer, schlafe im Wohnzimmer und das Sozialamt sagt, die Wohnung ist zu groß." Sie wohnt zusammen mit ihrer Tochter Rena und ihrem Enkel. Immer wieder muss sie um die Anerkennung von Sozialleistungen kämpfen, ihre Bedürftigkeit nachweisen. Warum? Weil sie - kurz gesagt - ein Opfer der NS-Judenverfolgung ist.
Überlebende häufig in prekären Situationen
Dass Überlebende des Holocaust im Alter in Existenznöte geraten, ist kein Einzelfall. Von den 400.000 Überlebenden weltweit lebten 40 Prozent unter der Armutsgrenze ihres jeweiligen Aufenthaltsortes, meldet die "Jewish Claims Conference", die für NS-Opfer Entschädigungen und materielle Hilfen aushandelt.
"Zu der finanziellen Not kommen Vereinsamung und Krankheiten wie Alzheimer", sagt Rüdiger Mahlo, der Repräsentant der Claims Conference in Deutschland. Holocaust-Überlebende seien dringend auf Hilfe angewiesen, weil sie oft in Sozialsystemen lebten, in denen keine besonderen Hilfen für sie vorgesehen seien. Auch in Israel klagen Überlebende immer wieder über ihre prekäre Lebenssituation.
Über Nacht zum Sozialfall
In Deutschland unterstützt die Claims Conference Berthe Spiegelstein bei ihrem Weg durch den Behördendschungel. "Nach dem Tod meines Vaters sind meine Mutter und ich quasi über Nacht zum Sozialfall geworden", erzählt Rena Spiegelstein. Ihr verstorbener Vater Israel Leon Spiegelstein, 1916 in Warschau geboren, hatte die Konzentrationslager Auschwitz und Dachau überlebt. 1945 wurde er auf den Todesmärschen von der US-Armee befreit. Als einziger aus seiner Familie überlebte er den Holocaust.
Nach Kriegsende blieb er kurzerhand in München, lebte zunächst im Lager für Displaced Persons in Feldafing. In den 1960er-Jahren lernte er bei einem Parisbesuch die 16 Jahre jüngere Berthe kennen. 1966 heirateten sie, entschieden sich gemeinsam in München zu leben, im Land der Täter. Für Berthe Spiegelstein war das kein leichter Schritt.
Kein Anspruch für Angehörige
1967 wurde Tochter Rena geboren. Berthe kümmerte sich um Haushalt und Erziehung. Der Vater hielt die Familie mit einem kleinen Textilgeschäft über Wasser. Leon Spiegelstein war zu 80 Prozent Invalide - die Folgen des KZ - und bezog bis zu seinem Tod 1991 eine Rente über das Bundesentschädigungsgesetz. Er starb im festen Glauben, dass seine Familie durch die Entschädigungsrente auch weiterhin versorgt sei.
Doch daraus wurde nichts. "Meine Mutter hätte beweisen müssen, dass er an einer Krankheit gestorben ist, die Folge des KZ-Aufenthalts war", sagt Rena Spiegelstein. "Weil sie das nicht konnte, wurde ihr keine Witwenbeihilfe gezahlt." Weil Leon Spiegelstein kein reguläres AOK-Mitglied, sondern als NS-Opfer über das Bundesentschädigungsgesetz versichert war, erloschen seine Ansprüche mit dem Tod.
Als Hinterbliebene standen Berthe Spiegelstein und ihre Tochter, die noch studierte, mit leeren Händen da. Einen Tag nach dem Tod ihres Mannes teilte ihr die AOK mit, dass sie nicht mehr krankenversichert sei. Berthe Spiegelstein kehrte nach mehr als 20 Jahren zurück in ihre Heimatstadt Paris. Dort zumindest hatte sie Anspruch auf Sozialhilfe. "Es ist nicht leicht, das Land zu wechseln", sagt Berthe Spiegelstein. "Es war nicht leicht Frankreich zu verlassen, um nach Deutschland zu gehen. Und es war nicht leicht Deutschland wieder zu verlassen, um zurück nach Paris zu gehen."
"Offiziell steht Ihnen nichts zu"
In den vergangenen Jahren, erzählt Tochter Rena, sei ihre Mutter gebrechlich geworden. Sie habe zwei Schlaganfälle hinter sich. Vor eineinhalb Jahren holte Rena Spiegelstein, die als Juristin in München arbeitet, ihre Mutter zu sich. Und stand erneut vor einem Problem: Ihre Mutter erhält keine Krankenversicherung. Ihre Biografie passt nicht ins System. "Man hat meiner Mutter gesagt: Sie sind nicht Deutsche, Sie haben hier selbst keine eigenen Ansprüche erworben, Sie haben hier nie gearbeitet, haben selber nie eingezahlt, also steht Ihnen eigentlich offiziell nichts zu."
Erst nach vielen Briefen, unter anderem an die AOK, ans bayerische Finanzministerium, den Zentralrat der Juden und den Deutschen Bundestag, tut sich was: Die Stadt München nimmt Berthe Spiegelstein in die Grundsicherung auf. So ist sie immerhin krankenversichert. Zur Ruhe kann sie noch immer nicht kommen. "Sie muss alle paar Monate dorthin", sagt Rena Spiegelstein. "Sie muss ihre Kontoauszüge vorlegen, weil es nach wie vor kein richtiger Anspruch ist."