Experte zu Ärzte-Honorarstreit "Dieses System kann niemand mehr verstehen"
Die Ärzte bekommen zwar ein Plus von bis zu 1,27 Milliarden Euro. Doch die Unzufriedenheit werde damit nicht beseitigt, meint Gesundheitsexperte Knieps im Gespräch mit tagesschau.de. "Das eigentliche Problem liegt bei der Verteilung des Geldes." Das System durchblicke niemand mehr.
tagesschau.de: Ärzte und Kassen haben sich geeinigt, trotzdem wird heute gestreikt. Warum ist die Unzufriedenheit bei den Ärzten so groß?
Franz Knieps: Die Art und Weise, wie hier verhandelt wird ist schon sehr gewöhnungsbedürftig. Die Ärzte fühlen sich von den Kassen nicht respektiert. Die Kassen neigen dazu, vor Verhandlungsrunden beispielsweise Korruption anzuprangern oder irgendwelche Studien in Auftrag zu geben, die sehr dubios sind. Da kommt plötzlich eine Unternehmensberatung und sagt, soundsoviel Geld verschwindet im Gesundheitswesen. Danach kann man fast die Uhr stellen. Das regt die Ärzte gewaltig auf, und ich muss sagen: Ich kann das schon ein wenig verstehen.
Aber meines Erachtens geht es auch gar nicht darum, wie viel die Krankenkassen insgesamt bezahlen, sondern um die Verteilung des Geldes. Die ist nicht mehr nachvollziehbar. Das System hat eine Komplexität erreicht, die niemand mehr versteht. Auch nicht diejenigen, die darüber verhandeln.
Franz Knieps war von 2003 bis 2009 Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium und prägte als Berater von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt die Gesundheitspolitik dieser Zeit. Der Volljurist war außerdem Berater der WHO und der EU in Gesundheitsfragen. Heute ist er Partner in einer Unternehmensberatung.
tagesschau.de: Warum ist denn das System so kompliziert?
Knieps: Das liegt daran, dass es ein historisch gewachsenes System ist. Es wurde immer daran angeknüpft, was früher war, anstatt mal einen Schnitt zu machen und zu sagen: 'Wir bewerten jetzt alles neu.' Es wurde so viel daran nachgebessert, dass man heute die Wirkungen, die irgendeine Anpassung haben soll, überhaupt nicht mehr seriös kalkulieren kann.
Man muss sich ein komplett neues Honorierungssystem überlegen und das alte System schrittweise in das neue überführen. Ich halte das alte System für nicht mehr reformierbar, es ist so kompliziert und so ineinander verschachtelt, dass es keiner durchschaut und auch keiner mehr darauf aufbauen kann.
"Je mehr Geräte, desto besser der Umsatz"
tagesschau.de: Warum ist die Verteilung des Geldes das Problem?
Knieps: Nachdem man sich geeinigt hat, wieviel mehr Honorar die Ärzte bekommen sollen, setzt der Verteilungskampf auf regionaler Ebene ein. Hier müsste die Ärztevereinigung für mehr Gerechtigkeit sorgen. Das schafft sie aber nicht, weil sie dafür innerhalb der eigenen Reihen keine Mehrheiten bekommt. Also verlangt die Bundesebene einfach so viel Geld wie möglich, damit auch der Letzte noch ein spürbares Plus hat. Man ist aber nicht bereit, die Details der Verteilung anzupacken. Und davon lenkt man am besten ab, indem man Stimmung gegen die Krankenkassen macht.
tagesschau.de: Sind Hausärzte tatsächlich so viel schlechter dran als Fachärzte?
Knieps: In einer sehr generalisierten Betrachtung kann man das sagen. Das heutige System setzt Anreize, Technikleistungen gut zu bezahlen und Zuwendung schlecht zu bezahlen. Also sehr allgemein gesprochen: Je mehr Geräte eingesetzt werden, desto mehr Umsatz kann ein Arzt machen. Man kann aber daraus nicht schlussfolgern, dass jeder Hausarzt schlecht bezahlt würde. Das hängt stark von der Region ab. In Baden-Württemberg haben Hausärzte einen separaten Vertrag mit der AOK geschlossen und verdienen ordentlich. Es kommt auch sehr darauf an, wie viele Patienten ein Arzt hat. Wenn man in Brandenburg eine gut organisierte Praxis auf dem Land hat, muss man sehr viel arbeiten, verdient aber auch viel Geld.
tagesschau.de: Wie müsste ein gerechteres und effektiveres Honorarsystem aussehen?
Knieps: Einen Königsweg gibt es da nicht. Ich würde aber eine feste Gebührenordnung schaffen. Dann taucht aber sofort die Frage auf: 'Wie gehe ich damit um, wenn die Ärzte daraufhin mehr und auch unnötige Leistungen anbieten?' Man sieht das ja bei privat Versicherten, da erbringen Ärzte Leistungen auf Teufel komm raus, so dass es mittlerweile ja fast gefährlich ist, privat versichert zu sein.
Deshalb bietet es sich an - ähnlich wie im stationären Sektor - zu Fallpauschalen zu kommen. Das heißt, man hat eine bestimmte Diagnose, für die es einen typischen Leistungskatalog gibt. Und das wird dann mit einer Pauschale vergütet. Das allein reicht aber nicht, weil es auch die Möglichkeit für individuelle, weitere Leistungen geben muss. Also muss dieses pauschale System um Einzelleistungen ergänzt werden, die gesundheitspolitisch erwünscht sind.
International gibt es auch eine Diskussion um das "pay for performance", also einen qualitätsorientierten Vergütungsanteil. Ein kleiner Teil des Honorars könnte also davon abhängen, ob Qualität geboten wird oder nicht. Davon darf man sich allerdings nicht zu viel versprechen, ich denke da an einen Anteil von fünf Prozent. Damit diejenigen, die dokumentiert besser sind, auch mehr Geld bekommen.
tagesschau.de: Wie soll man das kontrollieren? Mit dem Heilungserfolg?
Knieps: Das ist natürlich nicht so einfach, aber es ist machbar. Anhand bestimmter Ergebnisdaten kann man durchaus feststellen, wenn die Qualität schlecht war. Wenn beispielsweise ein Patient wegen einer einfachen Behandlung mehrmals ins Krankenhaus musste. Oder man kann feststellen, ob bei der Blutdruckeinstellung oder der Diabetikereinstellung gute Qualität geboten wurde.
"Ich habe die Paragraphen auch nicht mehr verstanden"
tagesschau.de: Wenn das System komplett erneuert werden muss, sind also nicht Ärzte und Krankenkassen, sondern allein der Gesetzgeber in der Pflicht?
Knieps: Auf mittlere Sicht ist der Gesetzgeber gefordert. Man muss sich ja nur mal die entsprechenden Paragraphen im Sozialgesetzbuch anschauen: Als die verabschiedet wurden, habe ich freimütig bekannt, dass ich sie nicht verstehe - und ich war der zuständige Abteilungsleiter.
Es ist aber unrealistisch, das noch in dieser Legislaturperiode zu fordern. Das ist ein Mammutprojekt. Aber nach der Wahl wird man es anpacken müssen. Sonst steigt die Unzufriedenheit der Ärzte immer mehr und damit auch die der Patienten.
"Das Geld wandert zu den Gesunden, nicht zu den Kranken"
tagesschau.de: Welche anderen strukturellen Probleme sehen Sie beim Honorar-System?
Knieps: Vor allem sind die unterschiedlichen Honorarordnungen für gesetzlich und privat Versicherte extrem ungerecht. Ein Internist in Starnberg, der 40 Prozent Privatpatienten hat, kann sich bequem zurücklegen, und ein Arzt in einem Arbeitervorort von München muss sich abstrampeln. Derjenige, der die kränkere Klientel hat, wird auch noch bestraft. Denn Privatversicherte sind ja tendenziell gesünder als die gesetzlich Versicherten. Das Geld wandert also zu den Gesunden, nicht zu den Kranken.
tagesschau.de: Welche Konsequenzen hat das derzeitige Verteilungssystem für Patienten? Kann es passieren, dass notwendige Behandlungen ausbleiben?
Knieps: So schlimm ist es wohl nicht. Es kommt natürlich darauf an, welcher Ethik der Arzt folgt. Andererseits kann man nicht auf Dauer gegen die Ökonomie ankämpfen. Es gibt in der Tat Leistungen, die sich nicht lohnen, zum Beispiel Hausbesuche.
Ich sehe aber andere Folgen: Es wird immer schwieriger werden, eine flächendeckende Versorgung mit Hausärzten zu gewährleisten. Die Jungen wollen keine Hausarztpraxen mehr übernehmen, die Alten können ihre Praxen nicht verkaufen. Die Stellen auf dem Land oder in unattraktiven Gegenden bleiben unbesetzt und es kommt zu einer Unterversorgung. Das gilt übrigens nicht nur für die Allgemeinmediziner, sondern auch für Kinderärzte, Gynäkologen und Psychiater.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de