Coronavirus Locker in die sechste Welle?
Die Zahl der Neuinfektionen ist so hoch wie nie. Doch ausgerechnet jetzt plant die Politik Lockerungen, wie es sie in Deutschland lange nicht mehr gab. Wie kann das sein? Und wer hat was dagegen?
Wie ist die Corona-Lage?
Blickt man auf die Zahlen, sind sie besorgniserregend. Erstmals seit Beginn der Pandemie meldete das Robert Koch-Institut (RKI) am Donnerstag mehr als 250.000 Neuinfektionen an einem Tag, die Inzidenz kletterte deutlich und liegt nun bei 1439. Seit mehr als einer Woche steigen die Zahlen kontinuierlich, jeder zweite PCR-Test ist positiv, wobei die Labore von einer deutlichen Untererfassung ausgehen. "Die Lage ist objektiv viel schlechter als die Stimmung", formuliert es Gesundheitsminister Karl Lauterbach und warnt, dass die Zahl der Toten in den kommenden Wochen weiter ansteigen werde. Das Impftempo lahmt, die Impfquote dümpelt weiterhin bei gut 75 Prozent - und auch das neue Präparat Novavax erweist sich mehr als Ladenhüter denn als Hoffnungsträger.
Die Entwicklung bietet also genug Grund zur Sorge, doch die aktuelle Stimmung ist nicht besorgt. Keiner hat mehr Lust auf Corona, das gefühlte Risiko sinkt, wie auch Daten der Cosmo-Studie der Universität Erfurt belegen. Wenn man erkrankt, wird es schon nicht so schlimm werden, so die verbreitete Sichtweise. Schließlich verliefen Infektionen mit der Omikron-Variante häufig mild. Auch von der Politik kommen Lockerungssignale. Ende nächster Woche soll ein Großteil der Corona-Maßnahmen wegfallen. Das verstärkt noch einmal das "Corona-ist-vorbei"-Gefühl.
Warum steigen die Zahlen?
Das Robert Koch-Institut hat zwei Erklärungen für die steigenden Zahlen: der Omikron-Subtyp BA.2 und die geringeren Kontaktmaßnahmen.
Der Subtyp gilt als leichter übertragbar, der Anteil BA.2 lag Ende vergangenen Monats nach einer Stichprobe bereits bei 48 Prozent der Infektionen, heißt es im Wochenbericht des RKI. Unklar ist, was der Subtyp BA.2 für die Krankheitsverläufe bedeutet. Das RKI und die WHO beobachten bisher noch keine schwereren Verläufe. Virologe Christian Drosten sagte im NDR-Podcast allerdings, dass sich aus bisherigen Studiendaten nicht sicher ableiten ließe, ob BA.2 zu schwereren Krankheitsverläufen führe. Die Daten hätten noch sehr vorläufigen Charakter.
Eindeutiger ist der zweite Aspekt. Die Kontaktregeln sind in vielen Bundesländern gelockert worden. Kontaktbeschränkungen wurden aufgehoben, Impfnachweise sind vielerorts nicht mehr nötig - und viele Menschen dürften sorgloser mit dem Virus umgehen. Bei vielen Menschen herrsche ein "Corona-ist-vorbei"-Gefühl, sagt Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. Man erlaube sich wieder mehr, treffe sich wieder in größeren Gruppen. "Das macht es dem Virus natürlich leichter, wieder mehr Menschen anzustecken."
Welche Öffnungsschritte sind nächste Woche geplant?
Zum 20. März sollen die meisten Corona-Auflagen wegfallen. Der Bund übergibt dann die Verantwortung weitgehend an die Länder. Grundlage ist das neue Infektionsschutzgesetz, das nächste Woche den Bundestag passieren soll. Es unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Maßnahmen: Zum einen gibt es den Basis-Schutz, den die Länder auf jeden Fall anwenden können, zum anderen härtere Restriktionen für Hotspots mit einem gefährlichen Infektionsgeschehen.
Zum Basis-Schutz, den die Länder jederzeit anordnen können, gehören Maskenpflicht, insbesondere in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und im öffentlichen Personennahverkehr und die Testpflicht, etwa in Altenheimen oder auch in Schulen.
Hotspots sind den Plänen zufolge Gebiete, in denen "die konkrete Gefahr einer sich dynamisch ausbreitenden Infektionslage besteht". Ein konkreter Grenzwert, ab wann ein Gebiet Hotspot ist, wurde nicht festgelegt. Ein Hotspot kann sich auf einen Stadtteil beschränken, aber auch ein ganzes Bundesland umfassen. Die Länder können für dieses Gebiet dann Maskenpflichten, sowie ein Abstandsgebot von 1,5 Metern im öffentlichen Raum, insbesondere in Innenräumen, beschließen. Zudem sollen die Menschen in diesem Fall verpflichtet werden können, beim Betreten bestimmter Einrichtungen und Unternehmen eines Impf-, Genesenen- oder Testnachweis vorzulegen. Einrichtungen oder Angebote mit Publikumsverkehr sollen zudem zur Erarbeitung von Hygienekonzepten verpflichtet werden.
Wie lautet die Kritik?
Scharfe Kritik kommt vor allem aus den Ländern. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst sagte, mit den geplanten Gesetzesänderungen lasse die Bundesregierung die Länder allein. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann sprach von grober Fahrlässigkeit. Die Länder hätten damit viel zu wenige Instrumente zur Hand. "Das ist kein wirksamer Basiskatalog, sondern ein Rumpfgerüst." Sein niedersächsischer Kollege Stephan Weil sagte: "Man wirft doch den Feuerlöscher nicht weg, wenn es noch brennt." Auch Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek äußerte sich kritisch.
Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen warf der Bundesregierung "Realitätsverweigerung" vor. Damit gefährde sie Menschenleben. Ein stärkerer Basisschutz sei nötig, Masken sollten in Innenräumen zum Beispiel vorerst bleiben."
Die gesundheitspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Kathrin Vogler, warf SPD und Grünen vor, vor der FDP eingeknickt zu sein, die möglichst weitgehende Freiheiten durchsetzen wolle. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich räumte ein, dass es um den Infektionsschutz ein hartes Ringen "insbesondere mit der FDP" gegeben habe, die für möglichst weitgehende Lockerungen eintritt. Das Ergebnis sei nun, den Ländern mehr Handlungsspielraum zu geben.
Der Deutsche Lehrerverband warnte davor, die Maskenpflicht an Schulen trotz vielerorts steigender Corona-Inzidenzen abzuschaffen. Statt Öffnungsplänen der Bundesregierung sei vielmehr eine Verschiebung oder gar Rücknahme von Lockerungsschritten zu erwägen, sagte Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger der "Rheinischen Post".
Gibt es auch Zuspruch?
Ja, vor allem von der FDP. Mit dem Kompromiss kämen Freiheit und Sicherheit in Einklang, so Bundesjustizminister Marco Buschmann auf Twitter. "Im Alltagsleben wird es so gut wie keine Einschränkungen mehr geben." Zugleich bekämen die Bundesländer einen Instrumentenkasten, um notfalls handlungsfähig zu sein. FDP-Fraktionschef Christian Dürr ergänzte, nach zwei Jahren könne Deutschland zur Normalität zurückkehren. Das Gesundheitssystem sei zum Glück nicht überlastet. "Es ist daher wichtig, nun auf die Eigenverantwortung jedes Einzelnen zu setzen."
Bremens Bürgermeister und SPD-Politiker Andreas Bovenschulte bezeichnete die künftigen Regeln in der "Welt" als derzeit verantwortbar.
Was sagt die Wissenschaft?
Bisher sind nur einzelne Stellungnahmen von Wissenschaftlern bekannt. Der Bioinformatiker Lars Kaderali aus Greifswald, der auch Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung ist, hält die angekündigten Lockerungen für vertretbar. "Bundesweit steigen die Corona-Zahlen zwar, die Situation in den Krankenhäusern ist aber noch undramatisch", sagte er. Allerdings fordert er, nur vorsichtig zu lockern und nur mit der Option, wieder zurückzugehen.
Grundsätzliche Schutzmaßnahmen wie Masken in Innenräumen/ÖPNV sind weiter notwendig, sagt Epidemiologe Hajo Zeeb. "Es geht auch darum, nicht erneut ältere Menschen in Heimen den Infektionsrisiken auszusetzen, hier muss auf jeden Fall auch weiter getestet werden." Im privaten Bereich sei gesunder Menschenverstand gefragt, betont Immunologe Watzl. "Es ist ein Unterschied, ob sich junge, gesunde Leute in größerer Gruppe treffen, oder ob ich zur Familienfeier mit Oma und Opa fahre."
Überraschend kommen die Zahlen für die Wissenschaft nicht. Die Modelle eines Forscherteams um Kai Nagel von der Technischen Universität Berlin haben den Anstieg schon vor gut zwei Wochen vorhergesagt. Watzl beschreibt die Entwicklung eher als "Höcker" in der Kurve denn als ausgewachsene neue Welle. Auch der Zeeb spricht von einer "nie ganz abgeflauten fünften Welle".
Wann endet diese Welle?
Wann die Welle wieder abflaut, ist schwer zu sagen. "Bei uns im Modell ist der Scheitelpunkt der BA.2-Welle ungefähr Anfang April", sagt Nagel. Ist der Scheitelpunkt erreicht, werden die Inzidenzen eher langsam sinken und bis in den Sommer hinein auf einem höheren Niveau verharren als im vergangenen Jahr, vermutet Immunologe Watzl. "Einstellige Inzidenzen bekommen wir diesen Sommer nicht."
Im besten Fall gehe es so wie in Dänemark, sagt Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. BA.2 hatte sich dort schon früher ausgebreitet als hierzulande. Dort seien die Zahlen nur recht kurzfristig wieder angestiegen.