Jubel bei der Wahlparty der NRW-Grünen nach den ersten Prognosen zur Landtagswahl
Analyse

Landtagswahl Nordrhein-Westfalen Wo die Grünen punkten konnten

Stand: 15.05.2022 20:45 Uhr

Eine wenig bekannte Spitzenkandidatin, aber starker Rückenwind aus der Bundespolitik. Woran lag es, dass die Grünen bei der NRW-Wahl ihr Ergebnis verdreifachen konnten? Eine Analyse auf Basis von infratest-dimap-Daten.

Eine Analyse von Dietmar Telser, tagesschau.de, zzt. Düsseldorf

Sie hat die Partei zu einem deutlichen Wahlerfolg geführt - und dennoch dürften wohl viele Menschen in Nordrhein-Westfalen erst nach diesem Wahlabend Mona Neubaur wirklich wahrnehmen. Ausgerechnet die Spitzenkandidatin der Grünen spielte offenbar bei der Entscheidung im Wahllokal nur eine geringere Rolle. Nicht einmal zehn Prozent der Grünen-Wählenden gaben in der Erhebung von infratest dimap an, dass die Kandidatin wichtig für ihre Wahlentscheidung war.

Viele kennen die Spitzenkandidatin nicht

Etwa die Hälfte der Befragten konnte die Arbeit Neubaurs überhaupt nicht bewerten. 44 Prozent der Befragten gaben an, sie gar nicht zu kennen. Und nur 22 Prozent zeigten sich zufrieden mit der Politik der Kandidatin.

Das ist gerade ein Prozentpunkt mehr als für den FDP-Spitzenkandidaten Joachim Stamp - einem der krachenden Wahlverlierer. Und es ist vergleichbar mit den Werten aus dem Jahr 2017 der damaligen Grünen-Kandidatin Sylvia Löhrmann. Auch Löhrmann wurde zur Wahlverliererin. Sie hatte die Partei in ein Tief von 6,4 Prozent der Stimmen geführt, während Neubaur die Grünen nun auf rund 18 Prozent hievte.

Bild: Zufrieden mit der politischen Arbeit

Rückenwind aus Berlin

Das zeigt: Umso entscheidender für die Grünen dürften diesmal sachpolitische Themen und der Einfluss der Bundespolitik sein. Die in Zeiten des Ukraine-Konfliktes präsenten Annalena Baerbock und Robert Habeck werden von den Wählenden deutlich positiver eingeschätzt und wahrgenommen als die regionale Spitzenkandidatin.

Die grünen Bundesminister erreichen Zufriedenheitswerte von deutlich mehr als 60 Prozent - und stellen damit auch Politiker wie Bundeskanzler Olaf Scholz und CDU-Oppositionsführer Friedrich Merz in den Schatten. So ist etwa nur jeder Zweite mit der Arbeit von Scholz zufrieden, mit der von Merz gerade jeder Dritte.

91 Prozent der befragten Grünen-Wähler sind der Meinung, dass die Partei die beste Politik in der Bundesregierung macht. Davon haben vermutlich auch die Grünen im Land profitiert. Der Politik Baerbocks dürfen die Grünen zudem wohl die zweistelligen Kompetenzwerte bei Wählerinnen und Wählern in NRW in der Außen- und Sicherheitspolitik verdanken.

Bild: Grünen-Wählende über die eigene Partei

Zustimmung für Waffenlieferungen

Das Wahlergebnis und die Einschätzungen der Befragten stehen damit auch für die Metamorphose der aus der Pazifismus-Bewegung entstandenen Partei. Ausgerechnet die befragten Parteianhänger der Grünen positionieren sich von den größeren Parteien bei der Frage nach Waffenlieferungen am klarsten.

Dass die Bundesregierung die Ukraine mit Waffen soweit wie möglich unterstützen sollte, befürworten 80 Prozent der Grünen-Wähler. Das ist prozentual mehr als unter SPD- und CDU-Wählern und deutlich mehr als unter FDP-Wählern. Auch das macht deutlich, wie breit die Wählerschicht der Grünen inzwischen ist und wie sehr sie sich - in diesem Fall - offenbar von dogmatischen Positionen entfernt hat.

Profitieren konnten die Grünen wohl von der unsicheren Lage auf dem Energiesektor, die mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine in Zusammenhang steht. Der Partei wird am ehesten zugetraut, dass sie die Energieversorgung sichern kann, zeigen die Umfragen.

Bild: "Regierung sollte Kiew mit Waffen unterstützen."

Kompetenzen der Partei

Ohnehin wird auch bei dieser Wahl deutlich, dass die Partei ihr Profil breiter entwickelt und neue Wählerschichten erschlossen hat. Den Grünen werden zwar weiterhin die stärksten Kompetenzwerte in den klassischen Feldern Integration, Klima- und Umweltpolitik zugeschrieben - auffällig ist allerdings ein deutlicher Anstieg der Kompetenzwerte in den Bereichen Wirtschaft und Verkehr.

Während die CDU im Vergleich zu 2017 um 14 Prozentpunkte bei der Wirtschaftskompetenz einbüßte (33 Prozent), legten die Grünen um fünf Prozentpunkte auf sechs Prozent zu. Sie bleiben dabei jedoch weiterhin deutlich hinter den Werten von CDU, SPD und FDP.

Die Einschätzung, dass sich die Partei zu wenig um die Wirtschaft und Arbeitsplätze kümmert, rückt zunehmend in den Hintergrund. 42 Prozent erkennen dies zwar weiterhin als Problem, 2017 bejahten diese Einschätzung aber noch 67 Prozent der Befragten.

Bild: Welche Partei kann am ehesten die Verkehrs- situation in Nordrhein-Westfalen verbessern?

In der Verkehrspolitik vorne

Das in NRW besonders kontrovers diskutierte Thema der Verkehrspolitik besetzen die Grünen am stärksten - und legen auch hier um 14 Prozentpunkte zu. Somit wird der Partei am ehesten zugetraut, die Verkehrssituation in NRW zu verbessern - noch vor der CDU.

Die Wählenden machen die beiden großen Parteien SPD und CDU gleichermaßen für die maroden Straßen im Land verantwortlich. Insgesamt spielte allerdings für die Wählenden das Thema Verkehrsinfrastruktur keine allzu wichtige Rolle. Nur drei Prozent der Befragten bezeichneten das Thema als wahlentscheidenden Grund.

Bild: Wer trägt die größte Verantwortung für den maroden Zustand vieler Straßen und Brücken?

Grüne gewinnen auch "Nichtwähler"

Wie breit die Grünen in NRW aufgestellt sind, zeigt auch die Wählerwänderung. Die Grünen haben nicht nur von der SPD Stimmen geholt, sondern auch im bürgerlichen Lager fast ähnlich viele Wähler gewonnen. Nach der vorläufigen Wählerwanderung wechselten mehr als 100.000 Wählerinnen und Wähler von der FDP zu den Grünen und gut 140.000 von der CDU. Und: Anders als anderen Parteien gelang es den Grünen, auch "Nichtwähler" zu mobilisieren - also Menschen, die 2017 nicht zur Wahl gegangen waren.

Dazu gewinnen kann die Partei in allen Bildungs- und Berufsgruppen. Der Stimmanteil der 18- bis 24-Jährigen ist bei den Grünen traditionell hoch. In NRW liegt die Partei in dieser Altersgruppe bei 28 Prozent und damit vor CDU und SPD.

Und dennoch gibt es auch Bereiche, in denen sich die Grünen weiterhin schwer tun: Die Stimmanteile unter den Arbeitern bleiben unterdurchschnittlich und legen kaum zu. Bei den Wählenden mit schlechter wirtschaftlicher Situation sind die Grünen ähnlich unattraktiv wie die FDP. Und beim Thema Innere Sicherheit bleiben die Grünen auch in NRW blass - gerade drei Prozent der Wählenden trauen der Partei hier Kompetenzen zu.

Angela Tesch, Angela Tesch, ARD Berlin, 16.05.2022 06:00 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 15. Mai 2022 um 20:00 Uhr.