Wolfgang Schäuble Ein ganzes halbes Jahrhundert
Er begann als einfacher Abgeordneter im Bundestag - und wird wohl seine Karriere auch als solcher beenden. Dazwischen liegen 50 Jahre. Der Rekordparlamentarier Wolfgang Schäuble, seine Erfolge, Fehler und verpassten Chancen. Ein Porträt.
"Dem deutschen Volke" steht auf dem Portal des Reichstages. "Dem deutschen Volke dienen", könnte man ergänzen. So zumindest will Wolfgang Schäuble seine Amtszeit im Parlament verstanden haben. 50 Jahre hat er sich diesem Auftrag verpflichtet gefühlt. Niemand vor ihm war so lange Parlamentarier.
Man muss schon weit zurückschauen in die Geschichte des Parlaments um Vergleichbares zu finden. Der Sozialdemokrat August Bebel war 42 Jahre lang Abgeordneter - von 1871 bis zu seinem Tod 1913. Da gab es allerdings noch einen Kaiser. Die erste deutsche Demokratie war noch weit entfernt. In der Weimarer Republik schaffte der hessische Minister- bzw. Staatspräsident Carl Ulrich (SPD) sogar 45 Jahre. Auch das ist lange her.
Heute also schaut Schäuble auf ein halbes Jahrhundert im Deutschen Bundestag zurück. Politik ist für ihn wohl so etwas wie ein Lebenselexier, Motor für einen, der sich aufgerieben hat, der sich aufreiben wollte. Keiner, der an die Spitze drängte, sie aber gut hätte ausfüllen können, meint sein Parteifreund, der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz. "Er wäre zweifelsohne ein guter deutscher Bundeskanzler gewesen. Aber er hat zuallererst sein Recht als Mitglied der Bundesregierung aus dem Parlament abgeleitet."
Schäuble war der Mann hinter Helmut Kohl
Am Ende verhindert seine wohl beste Eigenschaft die ganz große Karriere: seine Loyalität, vor allem die zum Altkanzler. Schäuble war der Mann hinter Helmut Kohl. Mit ihm gestaltete er die deutsche Einheit. Mit ihm bekam seine politische Laufbahn aber auch die größte Schramme. Das "Geld-Beschaffungs-System" von Kohl verhindert am Ende auch einen Kanzlerkandidaten Schäuble.
Nach der Parteispendenaffäre des Altkanzlers, das Ende der Ära Kohl, muss auch Schäuble Fehler eingestehen. Es geht um eine Parteispende von damals 100.000 DM, die Schäuble vom Waffenlobbyisten Karlheinz Schreiber entgegengenommen hat. Das kostet ihn den Parteivorsitz und eine spätere Kanzlerschaft. Angela Merkel profitiert davon und nutzt ihre Chance. Bereuen will Schäuble das im Nachhinein nicht.
Im Interview mit den tagesthemen scheint Schäuble mit sich im Reinen. Er hat seinen Frieden gemacht, mit den Fehlern und den verpassten Chancen.
Schäuble war fast alles
Vieles in seinem politischen Leben spricht für eine positive Bilanz. Er war der Mann, der den Einheitsvertrag maßgeblich verhandelt hat. Er war Innenminister, Finanzminister, Bundestagspräsident, zuletzt in der Regierung Merkel. In der EU kennen sie ihn als fairen aber auch unbequemen, manchmal unnachgiebigen Verhandler. Die Griechen können wohl ein Lied davon singen. Auch im politischen Berlin hat sich manch einer am Finanzminister Schäuble die Zähne ausgebissen.
Von der politischen Konkurrenz will heute niemand etwas Böses sagen und wer es könnte, lässt es lieber und sagt gar nichts. Wohl aus Respekt vor der politischen Leistung klingt Kritik am Lebenswerk des Wolfgang Schäuble eher verhalten an.
Und wenn dann ist es Kritik an der Sache, wie etwa die von Markus Meckel. Er war der letzte und erste frei gewählte Außenminister der DDR. Meckel saß mit Hans-Dietrich Genscher und Eduard Schewardnadse zusammen, bei den Verhandlungen zu den 2+4 Verträgen. Die Verhandlungen des Einheitsvertrages machten vor allem Schäuble und Günther Krause, die Innenminister der damaligen BRD und DDR.
Ostdeutsche Interessen fehlen im Einheitsvertrag
Meckel erinnert sich, dass er damals ein Interview im "Spiegel" gegeben hat, gemeinsam mit Schäuble. Sein persönlicher Eindruck damals: fair im Umgang, auch mit der Fähigkeit die andere Seite anzuhören. In der Sache aber war man sich nicht einig. Schäuble arbeitete am Einheitsvertrag, der formal nach Artikel 23 des Grundgesetzes ein Beitritt war.
Meckel mahnte damals schon an, dass die DDR zu diesem Zeitpunkt ein frei gewählter Staat war. Man hätte deshalb mehr ostdeutsche Interessen im Einheitsvertrag berücksichtigen sollen, um den ehemaligen DDR-Bürgern das Gefühl zu geben, sie würden auf Augenhöhe behandelt. "Ich glaube, dass Wolfgang Schäuble die Einheit so gut wie er konnte, machen wollte. Aber eben technisch so gut wie möglich. Und das war ja auch ein Meisterwerk der Administration." Dennoch seien viele ostdeutsche Besonderheiten mit dem Vertrag nicht erfasst worden, etwa die vielen Zusatzrenten in der DDR. Die Lasten tragen bis heute mehrheitlich die ostdeutschen Länder. Aber auch ganz einfache Dinge, wie der Erhalt der Vorschulbildung oder auch die Polikliniken.
Strukturen verschwanden und konnten zum Teil bis heute nicht wirksam ersetzt werden. Das wirke nach. Viele Ostdeutsche hätten, bei aller Freude über die Einheit, bis heute das Gefühl, dass ihre Lebensleistung nicht angemessen gewürdigt wurde. Der Staat war plötzlich weg. Die Identität aber nicht.
Meckel meint, es fehlte "ein Verständnis dafür, dass wir Ostdeutsche als aufrechte Menschen in diese Wiedervereinigung gehen wollten, selbstbestimmt. Denn wir hatten den Kommunismus hinweggefegt. Wir hatten eine freie Wahl. Diese Empathie fehlte doch weitgehend."
Korrekturen wurden in den vergangenen 32 Jahren nur wenig bis gar nicht vorgenommen, von keiner Bundesregierung. Auch Schäuble sagt rückblickend: Die Ostdeutschen hätten die Einheit unbedingt gewollt. Der Druck der Straße sei enorm gewesen. Als Webfehler im Einheitsvertrag will er das nicht verstehen. Am Ende gehört er zu den Architekten der Deutschen Einheit - und das wird wohl sein größter Verdienst bleiben. Seinen letzten Dienst an der Politik aber leistet er, wie er vor 50 Jahren begonnen hat: als einfacher Abgeordneter im Deutschen Bundestag.