Ein Jahr Krieg gegen die Ukraine Der Kanzler und die Zeitenwende
Die Ampelkoalition hatte sich unter Olaf Scholz viel vorgenommen. Dann kam Putins Krieg. Was hat das mit dem "Klimakanzler" und dem "Fortschrittsbündnis" gemacht - was kann es noch schaffen?
Die schlaflosen Nächte sind Olaf Scholz deutlich ins Gesicht geschrieben, als er an jenem Sonntag zur eilig einberufenen Sondersitzung an das Pult des Bundestags tritt, um sich zu erklären: "Wir erleben eine Zeitenwende: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor."
Es ist der 27. Februar 2022, drei Tage nach Putins "infamem Völkerrechtsbruch" (Scholz). Draußen, wenige Meter vom Parlament entfernt, demonstrieren zeitgleich Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger, darunter viele Kinder, gegen den Krieg. Im Land gehen lange nicht gekannte Ängste um - vor einem dritten Weltkrieg, gar vor einem Nuklearschlag der Atommacht Russland.
Eine außen- und sicherheitspolitische "Zeitenwende" für Deutschland und Europa ist das, vor allem aber auch eine "Erkenntniswende" (Handelsblatt) für die regierende deutsche Politik, von Altkanzlerin Angela Merkel mit ihrem ehemaligen Vizekanzler Scholz - bis hin zur jetzigen Kanzlerpartei SPD, die ihre bisherige Russlandpolitik von einem Tag auf den anderen völlig infrage stellen muss.
Ihr außenpolitisches Latein ist über Nacht am Ende. Die russische Gaspipeline Nord Stream gleich mit, die von Merkel und Scholz mit auf den Weg gebracht wurde - ein Irrtum der jüngeren deutschen Politik. Von einem "Epochenbruch" wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier später in einer Rede zum 8. Mai sprechen - es ist auch ein Bruch mit dem SPD-Altkanzler, Gazprom-Lobbyist und Putin-Freund Gerhard Schröder, dem er lange als Kanzleramtsminister gedient hatte.
Schlagartig muss sich nun die neuartige Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP vor allem mit den Folgen des russischen Angriffskrieges, etwa einer drohenden "Gasmangellage" befassen - die Abhängigkeit von russischem Gas fällt der Politik jetzt auf die Füße.
Die Schonzeit für die Ampelkoalition ist damit schneller vorbei als bei nahezu allen Vorgängerregierungen: "Eine der schwierigsten Startbedingungen, die eine Bundesregierung je hatte", urteilt der Politologe Uwe Jun im Gespräch mit tagesschau.de, definitiv schwerer habe es auf jeden Fall nur noch die erste Bundesregierung im Jahr 1949 gehabt, die ein von Hitlers Krieg zerstörtes Land wiederaufbauen, demokratisieren und grundlegende Entscheidungen treffen musste.
Optimistischer Start
Als Scholz am 8. Dezember 2021 im Bundestag seinen Amtseid schwört, stellt er sich die nächsten Monate vermutlich anders vor. Die Ampel soll eine "Fortschrittskoalition" werden. All das, was aus Scholz' Sicht mit der Union in den lähmenden GroKo-Jahren nicht ging, scheint nun greifbar: Ein neues Staatsbürgerschaftsrecht zum Beispiel, der Abschied von Hartz IV - und vor allem eine andere Klimapolitik. Die Energiewende soll nun endlich gelingen. Die Pandemie mit ihren umstrittenen Einschränkungen und Kontroversen etwa beim Thema Impfpflicht läuft zwar noch, doch der Blick in die Zukunft ist optimistisch.
Ausgelöst vom russischen Angriffskrieg rollen dann gleich mehrere Krisen auf Deutschland zu: Die Energiepreise gehen durch die Decke, die Inflation in Deutschland steigt immer weiter und das Land nimmt durch den Krieg gegen die Ukraine mehr Geflüchtete auf als 2015/2016.
Bei der Kabinettsklausur im Sommer war die Anfangseuphorie längst verschwunden - der Angriffskrieg gegen die Ukraine bringt die Scholz-Regierung in einen Dauerkrisenmodus.
"Krisenmodus von Tag Eins an"
Verglichen mit dem krisenfreien Beginn der Amtszeit von Merkel im Jahr 2005 müsse Scholz das Land "von Tag Eins an durch multiple nationale und internationale Krisen führen", sagt SPD-Co-Chef Lars Klingbeil in einem Interview mit dem ARD-Hauptstadtstudio: Merkel sei erst in ihrem dritten Amtsjahr mit einer großen Krise, der Finanzkrise 2008, konfrontiert gewesen.
Das alles passiert, während viele in der Ampelkoalition Regierung erst noch üben müssen. In den zentralen Ministerien von Grünen und FDP haben nur Robert Habeck und Volker Wissing Erfahrungen an der Spitze eines Ministeriums. Einigen Regierungsmitgliedern merkt man an, dass sie der Krisenmodus überfordert.
Es wird offensichtlich, dass der Wechsel aus der Opposition in die Regierung nicht einfach ist. Die SPD bringt zwar die Regierungserfahrung der GroKo-Jahre mit. Aber auch sie hat Probleme. Ausgerechnet mit ihrer Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. Die war zwar vorher schon Ministerin, das hindert sie aber nicht daran von einem Fettnäpfchen ins nächste zu treten.
Als diejenige an Scholz‘ Seite, die nun die "Zeitenwende" für die Bündnis- und Landesverteidigung durchdeklinieren und die Bundeswehr mit dem dafür verkündeten Sondervermögen von 100 Milliarden Euro besser ausrüsten soll, wirkt sie bald wie eine Fehlbesetzung. Dem russischen Einmarsch folgt parallel zu Scholz' Zeitenwende-Rede die vergleichsweise späte Waffenwende, verkündet wird dabei jeder Schritt vom Kanzler persönlich.
Im Vergleich zu Lambrecht wirkt Außenministerin Annalena Baerbock selbstbewusst und eigenständiger. Hat ihr Scholz noch bei seiner Zeitenwende-Rede ausdrücklich für ihre aktuellen Verdienste gedankt, stehen die beiden inzwischen in durchaus distanzierterer Konkurrenz mehr nebeneinander als zueinander. Wer prägt wie stark die deutsche Außenpolitik? Das zeigt sich zum Beispiel bei der ersten deutschen Nationalen Sicherheitsstrategie.
"Bittere Entscheidungen"
Rhetorisches Geschick mit der Krise umzugehen, legt Scholz' grüner Vizekanzler Habeck an den Tag: Und das, obwohl der Minister für Wirtschaft und Klimaschutz gerade seiner Partei nun unbequeme Wahrheiten abverlangen muss, um die Gasmangellage abzuwenden. Habeck nimmt ausgemusterte Kohlekraftwerke wieder ans Netz, lässt Flüssiggasterminals in Rekordzeit errichten, AKWs länger laufen und verbeugt sich vor dem Handelsminister in Katar - in der Hoffnung auf Erdgasgeschäfte, um die Versorgung hierzulande zu sichern.
"Es war ja eine Kette von schwierigen Entscheidungen", sagt Habeck gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio. Für richtig, aber wegen der Erderwärmung problematisch hält er den Schritt, Kohlekraftwerke wieder ans Netz zu nehmen, das sei "natürlich eine bittere Entscheidung".
... und bittere Pillen zu schlucken
Doch nicht nur die Grünen müssen bittere Pillen schlucken, auch die FDP: Die Partei, die damit Wahlkampf machte, sorgsam mit den Staatsfinanzen umgehen zu wollen, muss in Person des Finanzministers Christian Lindner den Titel "Rekordschuldenmacher" angesichts der Krise ertragen.
Noch nie musste ein Finanzminister und damit auch Deutschland so hohe Schulden aufnehmen. Zwar hält er als FDP-Chef und Finanzminister die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse immer hoch, verwehrt sich seit Amtsantritt gegen Steuererhöhungen und verweist auf die hart in den Koalitionsvertrag verhandelten FDP-Prinzipien.
Doch mit der Zeitenwende beginnt der Spagat - zwischen Schuldenbremse und die Wirtschaft retten, Bürger entlasten und die Bundeswehr stärken. Am Ende steht immer die Frage: Wie lange kann und wie lange muss der Staat das alles zahlen? Was kann sich Deutschland leisten?
Es werden zahlreiche Einzeltöpfe, gerne mit schlagkräftigen Worten des Kanzlers wie dem "Doppel-Wumms" verkauft: 200 Milliarden Euro für die Gas- und Strompreisbremse, reaktivierte Gelder aus dem Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds - vorbei an der Schuldenbremse. Zu dem Sondervermögen für die Bundeswehr kommen zahlreiche Entlastungspakete sowie Unternehmenshilfen: Es wird mit Geldern mehr reagiert als langfristig eine Strategie entwickelt.
Schwieriger Auftrag
Es sei nun an der Zeit, von einem hoch verschuldeten Staat zu einem Staat zurückzufinden, der seine Reserven wieder stärken könne, sagt Lindner dem ARD-Hauptstadtstudio. Eine Rückkehr zur Normalität, in der der Staat nicht alles finanzieren könne. Darin steckt ein schwieriger Auftrag für Scholz, den er nun mit seinem Kabinett umsetzen muss: Auf irgendetwas wird verzichtet werden müssen. All die Projekte, die man vor der Zeitenwende in den Koalitionsvertrag geschrieben hatte, werden wohl so nicht umsetzbar sein.
Die Verteilungskämpfe zwischen den Ministerien beginnen schon. Sie werden noch härter werden. Denn ab dem Bundeshaushalt 2024 soll die Schuldenbremse wieder greifen. Aber wie bringt man die Leute dazu, Zumutungen zu wollen - und dann auch noch die richtigen, fragt sich der Soziologe Armin Nassehi im Nachrichtenmagazin "Spiegel" und sagt dazu: "Mit Forderungen zu kollektiver Askese jedenfalls wird keine Wahl zu gewinnen sein." Verzicht demokratisch und solidarisch organisieren - das wird noch viele Verhandlungsnächte im Koalitionsausschuss brauchen.
Dazu kommt eine neue politische Lage, die eine Bundesregierung lange nicht hatte: Zu GroKo-Zeiten war die Opposition schwach. Die Grünen zeigten - gerade in der Pandemie - oft viel Verständnis fürs Regierungshandeln und die FDP schaffte es mit ihrer Kritik nur selten durchzudringen.
Jetzt steht der Ampelkoalition aber eine schlagkräftige Opposition gegenüber. Und das nicht nur im Bundestag. Waren zu GroKo-Zeiten 15 von 16 Länderregierungen von SPD, CDU und CSU geführt, fallen nun die unionsgeführten Länder als loyale Partner weg. Oppositionsführer Friedrich Merz hat derzeit ein leichtes Spiel, mit den Ländern einen Keil zwischen die oft zerstritten wirkende Ampelkoalition zu treiben.
Unterschiede der Koalitionspartner sichtbarer
In der Euphorie des Anfangs betonten die doch sehr verschiedenen Koalitionspartner ihre Gemeinsamkeiten. Nun würden jedoch mit immer weniger werdenden finanziellen und politischen Spielräumen ihre Unterschiede viel deutlicher sichtbar, sagt Politologe Jun. Denn jeder der drei Partner hat nun weniger Handlungsmöglichkeiten, seine eigenen Projekte nach vorn zu bringen.
Wie viele ihrer Wunschreformen die Scholz-Regierung in Zeiten des Krieges letztlich noch umsetzen kann, ist offen. In jedem Fall aber hat Scholz einen Satz schon sicher im Geschichtsbuch: Der Kanzler der Krisen-Superlative.