Politologe zum Asylstreit in der Union "Kein Machtkampf, keine Demontage"
Offener Dissens, aber kein Machtkampf: Politologe Oskar Niedermayer glaubt nicht, dass Merkel in ihrem Amt gefährdet ist. Im Interview mit tagesschau.de erklärt er, wie die Kanzlerin die Kritiker ihrer Flüchtlingspolitik einfangen kann.
tagesschau.de: Angesichts der Stimmenvielfalt aus der Union, was den Schutz vor allem syrischer Flüchtlinge angeht, spricht die SPD von einem "Machtkampf", sogar von einer "Demontage" der Bundeskanzlerin und CDU-Parteivorsitzenden Angela Merkel. Sehen Sie das auch so?
Oskar Niedermayer: Ich sehe weder einen Machtkampf noch eine Demontage. Dafür fehlt es an einem Herausforderer oder an einer Herausforderin, jemand, der oder die an die Spitze der Partei oder ins Kanzleramt will. Aber: Innenminister Thomas de Maizière hat mit seiner kritischen Haltung, vor allem, was das Recht von Flüchtlingen auf Familiennachzug angeht, eine große Sorge in Teilen von Partei und Fraktion aufgenommen.
Oskar Niedermayer ist Politikwissenschaftler, war zuletzt Professor an der FU Berlin und ist inzwischen emeritiert. Schwerpunkte seiner Forschung sind politische Einstellungen sowie die Parteien- und Wahlforschung.
tagesschau.de: Haben Sie eine vergleichbar offene Kritik an Merkel schon mal erlebt?
Niedermayer: Seitdem Merkel ihr Amt angetreten hat, gab es immer parteiinterne Kritik. Das ist nichts Neues. Neu ist, dass die Kritik nicht nur von Mitgliedern der Fraktion geäußert wird, sondern auch von Mitgliedern des Kabinetts.
tagesschau.de: Inwieweit versucht de Maizière als Innenminister, wieder Terrain wettzumachen, nachdem Kanzleramtschef Peter Altmaier zum Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung ernannt wurde?
Niedermayer: Nach wie vor gilt das Ressortprinzip: Jeder Minister führt sein Ministerium eigenverantwortlich. Das hat de Maizière für seinen Vorstoß jetzt genutzt. Allerdings bestand wohl ein Problem in der mangelnden Kommunikation. Offenbar waren Altmaier und das Kanzleramt über die Ansichten des Innenministers nicht informiert.
tagesschau.de: Was bedeutet es, wenn sich ein Schwergewicht wie Finanzminister Wolfgang Schäuble auf die Seite von de Maizière stellt?
Niedermayer: Schäuble ist wie vielen anderen in der Union klar, dass der Druck aus der Kommunalpolitik und der Bevölkerung zunehmen wird, wenn immer mehr Menschen nach Deutschland kommen. Diese Zahlen gilt es in den Griff zu bekommen. Die Bundeskanzlerin sollte nach dem offen ausgetragenen Dissens vom Wochenende reagieren.
tagesschau.de: Welches Zeichen muss Merkel setzen?
Niedermayer: Um Kritik und Kritiker einzufangen, müsste Merkel von ihrer bisherigen Linie abweichen. Sie müsste öffentlich nachvollziehen, was reale Politik schon längst getan hat: Nämlich der Tatsache Rechnung tragen, dass es mit einem Satz wie "Wir schaffen das" nicht getan ist. Sie müsste deutlich machen, dass es zwar keine theoretische Obergrenze im deutschen Asylrecht gibt, aber sehr wohl eine faktische Obergrenze dessen, was Deutschland an Migration in kurzer Zeit verkraften kann.
tagesschau.de: Merkels persönliche Umfragewerte wie auch die der CDU sinken. Inwieweit ermutigt das ihre Kritiker?
Niedermayer: Für Politiker ist es durchaus ein Maßstab, wie ihre Politik ankommt. Auch Merkel sollte sorgfältig beobachten, wie und in welchem Umfang die Stimmung in der Bevölkerung kippt, wie Sorgen zunehmen. Das muss irgendwann auch politische Konsequenzen haben. Dem tragen de Maizière und Schäuble aus ihrer Sicht Rechnung.
tagesschau.de: Wie gefährlich ist diese Auseinandersetzung für Merkel?
Niedermayer: Ich glaube nicht, dass der Anfang vom Ende ihrer Amtszeit gekommen ist. Merkel wirkt auf mich keineswegs amtsmüde. Mein Eindruck ist, dass sie sich vor der Verantwortung nicht drückt und die Situation in den Griff bekommen will. Sie wird also nicht freiwillig zurücktreten. Um sie aus dem Amt zu drängen, braucht es aber einen potenziellen Nachfolger, braucht es offene Rebellion. Beides kann ich noch nicht erkennen. Allerdings wird der Druck auf Merkel zunehmen, ihre öffentliche Haltung zu ändern.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de