Interview mit ARD-Rechtsexperte Möller "Schäuble hat die Sensibilität der Bürger unterschätzt"
Die Debatte nach den Äußerungen von Innenminister Schäuble laufe verkehrt, erklärt ARD-Rechtsexperte Möller im Gespräch mit tagesschau.de. Die Unschuldsvermutung schütze in der Tat nicht vor Strafverfolgung und gelte auch nicht bei der Gefahrenabwehr. Schäuble habe wohl einen Testballon starten wollen.
Die Debatte nach den Äußerungen von Innenminister Schäuble laufe verkehrt, sagt der ARD-Rechtsexperte Möller im Gespräch mit tagesschau.de. Die Unschuldsvermutung schütze in der Tat nicht vor Strafverfolgung und gelte auch nicht bei der Gefahrenabwehr. Schäuble habe damit wohl einen Testballon starten und sehen wollen, wie weit er bei den Bürgern kommt.
tagesschau.de: Herr Möller, ist die Kritik an Schäubles Äußerungen gerechtfertigt?
Karl-Dieter Möller: Ich glaube, dass zahlreiche Leute Schäubles Aussagen in den verkehrten Hals bekommen haben, weil sie nicht unterschieden haben zwischen dem Begriff der Unschuldsvermutung und dem der Gefahrenabwehr. Die Unschuldsvermutung besagt, dass keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf und dass es Aufgabe des Strafprozesses ist, zu erkunden, ob jemand sich tatsächlich strafbar gemacht hat oder nicht.
Die andere Seite ist die Strafverfolgung, zu der auch die Gefahrenabwehr im weitesten Sinne zählen kann. Und da gilt: Die Unschuldsvermutung hat nichts mit der Zulässigkeit von Strafverfolgung zu tun, wenn ein Verdacht vorliegt. Das erleben wir tagtäglich in Form von vorläufigen Festnahmen, Durchsuchungen und Untersuchungshaft. Hier gilt die Unschuldsvermutung nicht, im Gegenteil: Sowohl das Grundgesetz als auch die Menschenrechtskommission erlauben Maßnahmen, die dem Strafverfahren vorgelagert sind. Diese führen ja überhaupt erst dazu, zu klären, ob jemand schuldig ist oder nicht.
tageschau.de: Gilt die Unschuldsvermutung denn nur im Strafrecht?
Möller: Nein, sie ist die Ausprägung unseres Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang. Sie wird auch durch den Artikel 6 der EU-Menschenrechtskonvention praktisch in unser Gesetz überführt und hat somit den Rang eines Bundesgesetzes. Dieses beides hat das Bundesverfassungsgericht in vielen Entscheidungen immer wieder bestätigt.
"Straftäter muss Schuld nachgewiesen werden"
tagesschau.de: Wenn aber aufgrund der Gefahrensituation gegen mich ermittelt werden darf, was bringt mir die Unschuldsvermutung dann noch?
Möller: Ganz viel: Sie bedingt, dass man in einem Rechtsstaat die Garantie bekommt, dass die Schuld oder Unschuld bewiesen oder nicht bewiesen werden muss. Dass nicht einfach nur spekuliert wird, sondern dass der Staat jedem einzelnen Straftäter seine Schuld nachweisen muss. Erst dann ist die Unschuldsvermutung hinfällig.
tagesschau.de: Wer keine Straftat begangen hat, aber eine begehen könnte, hat dann ja weniger Rechte, als jemand, dem eine Straftat vorgeworfen wird, oder?
Möller: Ja, das ist durchaus möglich. Wenn jemand zum Beispiel im Vorfeld eine Tat plant oder im Verdacht steht, diese geplant zu haben, dann erfolgen zwangsläufig Strafverfolgungsmaßnahmen. Dann muss geprüft werden: Was ist da dran? Und das geht auch nicht anders. Wir müssen das als eine Art Kette sehen, und am Ende dieser Kette steht ein rechtskräftiges Urteil.
Staat muss immer rechtmäßig bleiben
tagesschau.de: Das klingt ja so, als dürfte der Staat aufgrund von Vermutungen alles mit mir machen?
Möller: Nein, natürlich nicht. Aber es muss in der Tat jeder Bürger immer damit rechnen, dass er mit einem Strafverfahren überzogen wird. Andererseits hat jeder das Recht, sich mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen unrechtmäßiges Vorgehen zu wehren. Stellen Sie sich vor: Plötzlich stehen bei Ihnen Polizisten vor der Tür und halten Ihnen einen Durchsuchungsbefehl vor die Nase, weil sie, sagen wir, eine Quittung gefunden haben, dass Sie einen Weltempfänger gekauft haben, mit dem man auch den Polizeifunk abhören kann. Wenn der Weltempfänger dann nicht bei ihnen gefunden wird, dann haben Sie das Recht, überprüfen zu lassen, ob diese Maßnahme rechtmäßig war oder nicht.
tagesschau.de: Was ist mit der Verhältnismäßigkeit der Mittel?
Möller: Alle Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein. Ein Beipiel: Da parkte ein Rechtsanwalt 2006 mehrfach unerlaubt auf dem Sonderfahrstreifen vor dem Justizgebäude in Aachen. Daraufhin rückte die Polizei in seine Amtskanzlei an und beschlagnahmte seinen Terminkalender. Das war nach Aussage des Verfassungsgerichts eine grobe Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der ja Verfassungsrang hat. Andererseits: Wenn man Beweismittel bei einem mutmaßlichen Terroristen findet, wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sicher etwas anders gesehen werden. Das kommt aber immer auf den Einzelfall an.
Große Bedenken gegen Online-Untersuchungen
tagesschau.de: Und wenn ich die Überprüfung gar nicht mitkriege?
Möller: Da sehe ich große verfassungsrechtliche Bedenken. Der Bundesgerichtshof hat deshalb ja auch gefordert, für Online-Durchsuchungen ein Gesetz zu schaffen. Sie müssen richterlich überprüfbar bleiben.
tagesschau.de: Was bezweckt Schäube mit der Debatte um die Unschuldsvermutung?
Möller: Ich glaube, dass er die Sensibilität der Bürger in diesen Dingen sehr unterschätzt hat. Eigentlich ist es klar, dass man bei der Gefahrenabwehr die Unschuldsvermutung zunächst nicht hat, sondern bei einem Verdacht tatsächlich losgehen kann. Schäuble hätte aber klarer sagen müssen, dass die Unschuldsvermutung als Rechtsstaatsprinzip natürlich gilt. Er will dem Bundeskriminalamt offensichtlich mehr Befugnisse geben, zum Beipiel durch Online-Durchsuchungen. Vielleicht war es einfach der Versuch, einen Stein ins Wasser zu werfen und zu schauen, wie weit er damit kommt.
Die Fragen stellte Claudia Ulferts, tagesschau.de