Interview mit Beate Klarsfeld "Wir holen die Kinder in die Wirklichkeit zurück"
Im Streit um die Ausstellung "11.000 jüdische Kinder - Mit der Reichsbahn in den Tod" gibt es weiterhin keine Einigung zwischen der Deutschen Bahn und den Machern der Dokumentation. tagesschau.de sprach mit der Organisatorin Beate Klarsfeld über die Bilder der deportierten Kinder, die in Frankreich für viel Aufsehen gesorgt hatten.
tagesschau.de: Wer sind die Organisatoren?
Beate Klarsfeld: Die Ausstellung 11.000 jüdische Kinder aus Frankreich wurde von unserer Organisation „Die Söhne und Töchter der deportierten Juden aus Frankreich“ organisiert. Sie wurde zum 60. Jahrestag des Beginns der Deportationen der Juden aus Frankreich im März 1942 in 18 großen französischen Reisebahnhöfen gezeigt. Dies geschah mit voller Hilfe der französischen Bahn SNCF.
tagesschau.de: Warum wollen Sie diese Ausstellung in Deutschland zeigen?
Klarsfeld: Da von den 11.000 Kindern über 750 in Deutschland und Österreich geboren worden waren, haben wir der Deutschen Bahn angeboten, die Bilder der Kinder in deutschen Bahnhöfen zu zeigen. Das war vor drei Jahren. Allerdings hatte ich den Eindruck, die DB interessiert das alles nicht. Dann kam nach einiger Zeit die Ablehnung. Die Begründung war, dass die Ausstellung ins Nürnberger Bahnmuseum gehöre. Außerdem habe die Bahn weder genügend Geld noch Personal.
Auch Sicherheitsbedenken wurden angeführt. Ich nehme an, sie haben Angst vor radikalen Gruppen. In Frankreich gab es keinen Zwischenfall, weder mit Rechtsextremisten noch von anderen Gruppierungen. Ich glaube, auch in Deutschland würde es Rechtsextremisten nicht einfallen, die Bilder von Kindern abzureißen oder zu beschmieren. Und schließlich meinte die Bahn, man könne den Reisenden eine solche Ausstellung nicht zumuten. Daraufhin hat sich die Initiative „11.000 Kinder“ gegründet.
tagesschau.de: Was hat die Initiative unternommen?
Klarsfeld: Sie hat eine provisorische Ausstellung angefertigt, die von ver.di subventioniert und in einigen ver.di-Gebäuden gezeigt wurde. Aber gleichzeitig sind wir auch unerlaubt mit Kinderbildern in die Bahnhöfe gegangen. Wir waren in Frankfurt am Main, in Karlsruhe, in Stuttgart - und haben so darauf aufmerksam gemacht, dass die Bahn die Ausstellung verweigert.
tagesschau.de: Wie ist die Ausstellung entstanden?
Klarsfeld: Wir haben zum Liscka-Prozess die Liste der Juden zusammengestellt, die aus Frankreich deportiert worden waren. Es gab keine genauen Zahlen, die Deutschen untertrieben, die Franzosen übertrieben, weil sie auch die Widerstandskämpfer mit einrechneten. Wir haben dann für den Prozess die 76.000 Namen, Vornamen, Geburtsnamen, Geburtsorte und Nationalitäten herausgefunden. Für uns war immer wichtig, die Zahlen zu personalisieren. Für die 11.000 Kinder wollten wir dann auch die letzte Adresse finden. Das ist sehr wichtig, da dadurch später an den Häusern in Frankreich Gedenktafeln angebracht werden konnten. Und mittlerweile haben wir von den Kindern schon fast 4000 Fotos gefunden.
"Die Besucher kamen von ganz allein"
tagesschau.de: Warum soll die Ausstellung unbedingt auf den Bahnhöfen gezeigt werden?
Klarsfeld: Dadurch werden die Kinder in die Wirklichkeit zurückgeholt. Die Reisenden sehen die Kinder vor der Deportation. Lächelnde Kinder. Und sie lesen den Text, wann die Kinder deportiert und von ihren Eltern getrennt wurden. Denn Kinder wurden sofort vergast. Dann nehmen die Reisenden ihren Zug und denken: Vor 60 Jahren wurden auf diesen Strecken diese Kinder nach Auschwitz deportiert. Damit wird die Beziehung viel bedeutender, als in einem Museum. Wir hatten in Frankreich in den Bahnhöfen sehr viele Besucher. Sie kamen von ganz allein zu uns, mussten keinen Eintritt bezahlen. Aber es stand ihnen frei, die Bilder anzuschauen. So kommt man an das große Publikum heran, das man in einem Museum nicht erreicht.
tagesschau.de: Und wie reagierten die Menschen auf die Bilder?
Klarsfeld: Die Reaktionen waren unwahrscheinlich positiv. Wir hatten auch ein Gästebuch ausgelegt, die Kommentare waren überwiegend positiv. Man hatte damals entschieden, die Minderheit der Juden in Frankreich auszulöschen. Nun bekam diese Minderheit durch die Kinder ein Gesicht.
tagesschau.de: Wie ist der Stand in der Auseinandersetzung mit der DB?
Klarsfeld: Für den 10. Juli ist ein Treffen vereinbart. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte sich sehr für uns eingesetzt, hatte ein Rundschreiben an alle Bundestagsabgeordneten geschickt. Daraufhin hatte Bauminister Wolfgang Tiefensee Bahnchef Hartmut Mehdorn aufgefordert, seine Haltung zu überdenken. Angeblich will die Bahn vorschlagen, die Ausstellung doch zu zeigen. Allerdings nur in Räumen, die in der Nähe des Bahnhofs liegen. Außerdem hatte man uns angeboten, die Ausstellung während der WM zu zeigen – im Lichthof des Verkehrsministeriums. Aber wir wollen die Bahnhöfe.
"Mehdorn kann sich nicht einfach abkapseln"
tagesschau.de: Was steckt denn Ihrer Ansicht nach hinter der Haltung der Bahn?
Klarsfeld: Das hängt sehr stark vom Vorsitzenden ab. Der Vorsitzende der französischen Eisenbahn hielt viele unserer Eröffnungsreden in den Bahnhöfen. Es wurde ein Buch veröffentlicht über die Verantwortung der SNCF. Herr Mehdorn hat offenbar nicht das gleiche Gefühl für die Verantwortung. Er kann sich nicht einfach davon abkapseln, denn die Deutsche Bahn ist der Rechtsnachfolger der Reichsbahn.
tagesschau.de: Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten gegen viele Widerstände angekämpft. Inwieweit ist das Verhalten der DB typisch?
Klarsfeld: Es begann mit der Kiesinger-Kampagne, es gab 1979 den Prozess in Köln gegen die Hauptverantwortlichen der Deportationen von Juden aus Frankreich - Lischka, Hagen, Heinrichsen. Wir hatten damals alles versucht, diesen Prozess zu erreichen. Wir wissen, dass es nicht einfach ist, solche Dinge in Deutschland zu erreichen. Das reiht sich ein. Aber wir versuchen, was wir können.
tagesschau.de: Verzweifeln Sie persönlich bisweilen, wenn Sie immer wieder gegen diese Widerstände ankämpfen müssen?
Klarsfeld: Wir hatten immer Erfolge: Kiesinger wurde durch den Widerstandskämpfer Willy Brandt ersetzt, der Kölner Prozess fand statt. Dank meiner Initiative ist Klaus Barbie in Lyon lebenslang verurteilt worden. Wir haben Alois Brunner in Syrien aufgedeckt, der kurz vor Kriegsende 350 Kinder aus Kinderheimen in Frankreich hat deportieren lassen. Wenn uns Grenzen gesetzt werden, versuchen wir diese zu überschreiten – wir waren oft illegal. Aber es gibt eben Grenzen, die wir nicht überschreiten können. Dann müssen wir aufgeben.
Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de