KZ-Gedenkstätten Die Aktualität des Erinnerns
Immer weniger Zeitzeugen und Zeitzeuginnen können persönlich von ihren Erfahrungen aus der NS-Zeit berichten. Der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen zu gedenken wird aber nicht weniger wichtig. Der Appell der Überlebenden, die Forderung „Nie wieder!“, hat nichts an Aktualität verloren. Die KZ-Gedenkstätten in Deutschland arbeiten gegen das Vergessen.
Von Nea Matzen, tagesschau.de
„Es geht darum, den Nummern wieder Namen zu geben“, sagt Peter Koch, Leiter der Bildungsabteilung der KZ-Gedenkstätte Dachau. Fotos, Texte von Zeitzeugen und Originalgebäude aus der Zeit des Nationalsozialismus erinnern hier an die Verbrechen in den Konzentrationslagern, an „die Menschen, die hier waren, die hier ermordet worden sind, die hier überlebt haben, die verfolgt worden sind“. Mittels detaillierter Biographien einzelner Opfer und Überlebender wird den Besuchern der Gedenkstätten nahe gebracht, was in den Konzentrationslagern geschehen ist. „Besucher haben dann nicht mehr nur eine abstrakte Vorstellung vom Nationalsozialismus als einer schrecklichen Zeit“, sagt Frank Jürgensen, Museumspädagoge in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Denn schließlich handele es sich um Gedenkstätten, nicht Museen, sagt Koch. „Indem die Besucher etwas über die Menschen im KZ und die historischen Zusammenhänge lernen, halten sie die Erinnerung an die Opfer wach“, fügt er hinzu. Die Gedenkstätten seien Orte, die auf Betreiben der Überlebenden - nicht durch eine staatliche Initiative - ab Mitte der 60er Jahre entstanden seien. Diese Gedenkorte hätten somit eine direkte Verpflichtung den Überlebenden gegenüber. Vermittelt werden solle vor allem eine Forderung, ein Appell: „Nie wieder!“.
Die besondere Bedeutung der Originalorte
Das Gedenken an die Opfer müsse an den Orten der Verfolgung stattfinden, sagt auch der Politologe Peter Reichel in der Auseinandersetzung über das Holocaust-Mahnmal in Berlin. Um der Opfer zu Gedenken, müsse den Menschen die Möglichkeit gegeben werden, in das benachbarte Sachsenhausen oder nach Buchenwald zu fahren. „Die Orte der Verfolgten, der Opfer, finden sich in den Vernichtungslagern Ostmitteleuropas und in den Konzentrationslagern von Sachsenhausen bis Dachau“, so Reichel. Am der zentralen Mahnmal in der Hauptstadt dagegen müsste seiner Meinung nach an die Verbrechen der Täter erinnert werden.
Dass die Gedenkstätten als Original-Tatorte eine besondere Bedeutung für das kollektive Erinnern haben, begründet Jürgensen mit einem pädagogischen Argument: „Die Chancen, einen Bezug zum Geschehenen herzustellen, sind viel größer, wenn man diese Orte besucht.“ An authentischen Orten, auch wenn diese nachträglich inszeniert worden seien, könne diese Thematik am besten zugänglich gemacht werden, betont auch Reichel, der seit vielen Jahren zum Thema Gedenken in Deutschland forscht. Eine besonders starke, eine „auratische“ Wirkung habe die Gedenkstätte in Auschwitz, sind sich Koch und Jürgensen einig. „Dieses riesige Gelände, auch die Sammlung der Brillen, Haare, Koffer“, ruft Koch sich die stärksten Eindrücke in Erinnerung.
"Die Würde des Menschen ist unantastbar"
Fast allen Besuchern von Gedenkstätten schießen sofort konkrete Fragen durch den Kopf, berichten die Experten aus Neuengamme und Dachau übereinstimmend: Was ist hier alles passiert? Was haben die Menschen hier erlebt? Wie konnten Menschen Menschen das antun? Die Geschichte rücke sofort näher – allein, weil die Originalgebäude gar nicht so alt seien und die Schilderung einzelner Biographien die Schicksale nachvollziehbar mache. In erster Linie aber auch, weil in den Gesprächen mit den Besuchern der KZ-Gedenkstätten auch Menschenrechtsverletzungen in der heutigen Zeit thematisiert würden. „Es mag paradox klingen“, sagt Koch, „aber es geht darum, an solch einem Tat- und Verbrechensort etwas über Menschenrechte zu erfahren und über die Notwendigkeit, sie zu schützen. ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar’, dieses abstrakte Postulat wird hier konkret.“
Information, nicht das manipulative Wecken von Emotionen müsse bei den Führungen und Vorträgen der KZ-Gedenkstätten im Vordergrund stehen, sind beide Experten überzeugt. Pädagogen. Starke Betroffenheit fördere den reflektierten Zugang im Regelfall nicht. Koch geht davon aus, dass die KZ-Gedenkstätten ihre Konzepte überdenken müssen, weil immer weniger Zeitzeugen persönlich berichten können. Empathie mit Opfern und Überlebenden entstehe immer. Sie dürfe aber nicht künstlich gefördert werden. „Wenn ich auf so einem Rundgang von einer Station zur anderen eine Grauensschiene bediente, dann müsste das Grauen immer stärker gesteigert werden. Wir nennen das hier ‚Knochenbrecherführungen’. Das ergäbe überhaupt keinen Sinn“, sagt Koch. Und sein Kollege Jürgensen sagt schlicht: „Meiner Meinung nach kann man mit dem Gefühl erst dann reagieren, wenn man weiß, was damals geschehen ist.“ Wer zu stark emotional bewegt sei, sei nicht aufnahmefähig.
Spurensuche - auch nach vergessenen Opfern
Da die vielen jungen Besucher die Zeit nicht selbst miterlebt haben, gehe es darum, Spurensuche zu betreiben und die Relevanz des Themas für ihr jetziges Leben zu erkennen, erläutert Koch seine Leitlinie der Gedenkstättenpädagogik. Das gelinge auch über die Frage: Wer erinnert eigentlich an wen? „Auf dem großen säkularen Mahnmal hier in der Gedenkstätte fehlen Häftlingsgruppen“, erläutert der Historiker. Die Grünen, Schwarzen und Rosa Winkel, die so genannten Berufsverbrecher, die angeblichen Asozialen und die Homosexuellen tauchten dort nicht auf. Das habe schließlich auch mit unserer Gesellschaft zu tun.
In der KZ-Gedenkstätte Neuengamme wird gezeigt, wie nach 1945 das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers genutzt wurde: Fabriken produzierten dort, ein Gefängnis wurde auf dem Lagergelände betrieben – nichts erinnerte zunächst an das KZ. Auch nach der Errichtung der ersten Gedenksäule 1953 dauerte es noch Jahrzehnte, bis die Gedenkstätte eingerichtet wurde.
Nach Ansicht der Experten reicht es nicht zu wissen, dass alles, was in den Konzentrationslagern passiert sei, grauenvoll war. „Es wird diskutiert, es wird darüber gesprochen, was in den Konzentrationslagern geschehen ist. Es wird nach Verständnis gesucht, denn Verstehen gibt es ja im Grunde nicht“, sagt Jürgensen. Darüber hinaus sollen die Besucher sich über die Zeit in der Gedenkstätte hinaus mit dem Nazi-Terror befassen. „Der Besucher soll verstehen, dass diese Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen innerhalb einer Gesellschaft funktionierten oder durchgeführt wurden, nicht abgekapselt auf eben jenem ‚Planeten des Terrors’.
Die Konzentrationslager waren Teil einer Gesellschaftspolitik: Volksgemeinschaft auf der einen Seite und Verfolgung und ‚Ausmerzung’ von ‚Gemeinschaftsfremden’ auf der anderen“, sagt der Dachauer Experte. Sich mit dem Wissen über die NS-Verbrechen konfrontieren und auch in der Familie darüber sprechen, mehr als das auszulösen, „können wir vielleicht gar nicht machen“, sagt der Museumspädagoge Jürgensen.
Zweimal: Warum?
Die KZ-Gedenkstätten reichen wie Mahnmale in unsere heutige Zeit hinein und sind der Geschichte, besonders den Opfern und Überlebenden, dabei so verpflichtet wie der Gegenwart. Der Hamburger Politologe Reichel sagt: „Die Deutschen müssen sich zwei Fragen in jeder Generation, in jedem Jahrzehnt aufs Neue stellen: Warum konnte der Holocaust gerade in Deutschland geschehen? Oder anders herum gefragt: Warum konnte Hitler, warum konnte eine staatliche Rassenpolitik nicht verhindert werden?“