Interview "Versöhnung ist nicht mehr das Thema" (20.01.2003)
Rudolf von Thadden ist seit 1999 Koordinator für die deutsch-französische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt. Der Historiker spricht im tagesschau.de-Interview über tagespolitische Verstimmungen, das stabile Fundament der deutsch-französischen Beziehungen und eine gemeinsame Position in der Irak-Frage. "Das wäre der Anfang einer europäischen Außenpolitik", so von Thadden.
tagesschau.de: Am Mittwoch feiern Deutschland und Frankreich mit großem Aufwand den 40.Jahrestag des Elysée-Vertrags. Warum hat dieser Vertrag in einem vereinten Europa noch eine so große Bedeutung?
Rudolf von Thadden: Die Antwort ist einfach. Weil Frankreich und Deutschland – übrigens nicht erst seit Adenauer und de Gaulle – als Kernländer der Europäischen Union betrachtet werden. Das hat auch kulturhistorische Gründe: Die Franzosen sind sozusagen die am weitesten nach Nordosten vorgeschobene Landschaft der so genannten Romania – also der romanischen Welt. Und wir sind die am weitesten nach Südwesten angrenzende Landschaft der germanischen Welt – früher hätte man gesagt, der nordischen Völker. Die Franzosen sehen in der Synthese zwischen Deutschland und Frankreich so etwas wie einen Spannungsbogen - und wenn der hält, dann hält das Ganze.
tagesschau.de: Aber warum ist dieses bilaterale Verhältnis in einem Europa, dass sich immer mehr vereinigt, noch so bedeutsam?
Rudolf von Thadden: Wir Deutschen vergessen, dass de Gaulle immer mehr auf die bilaterale Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland gesetzt hat als auf die Brüsseler Europäische Union. De Gaulle war sogar in mancher Hinsicht ein Gegner der Brüsseler Union, weil er vor zuviel Integration Angst hatte. Und wir Deutschen vergessen, dass heute an der Spitze des französischen Staates ja auch "Gaullisten" stehen. Staatspräsident Chirac fühlt sich in der Tradition von de Gaulle und hat eine stärkere nationalstaatliche Bindung als die meisten Deutschen. Für die Franzosen ist Europa nur als eine Föderation der Nationalstaaten denkbar, während für die meisten Deutschen Europa ja umgekehrt ein Beitrag zur Relativierung der Nationalstaaten ist. Und dieser Unterschied zwischen den beiden Konzeptionen von Europa muss uns wieder bewusst gemacht werden – sonst verstehen wir nicht, was jetzt in Versailles (bei den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags – Anm. der Red.) passiert.
tagesschau.de: Welche Rolle haben die beiden Gründerväter de Gaulle und Adenauer gespielt?
Rudolf von Thadden: Sie haben eine große Rolle gespielt, aber zwei Dinge muss man aber auch dort in Erinnerung rufen. Zum einen hat die deutsch-französische Versöhnung schon viel früher begonnen. Sie hat im Grunde schon bei den Kriegsgefangenen angefangen: bei den Franzosen, die in Deutschland waren und bei den Deutschen, die nach dem Kriege in Frankreich waren. Bereits nach dem Krieg gab es also eine Annäherung, die schließlich zu einer Versöhnung führte. Zweitens muss man sich die konkrete Vorgeschichte des Elysée-Vertrages ins Gedächtnis rufen. Damals hatte Frankreich den Algerien-Krieg verloren und das ganze Kolonialreich in Afrika. Und Deutschland stand eineinhalb Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer auch nicht gerade besonders stark da. Das heißt, zwei im Grunde angeschlagene Nachbarn gingen aufeinander zu und hofften, dass sie sich ergänzen können. Sicher: Die französische Position war stärker als die deutsche, denn Deutschland war damals geteilt. Aber es ändert nichts daran, dass de Gaulle wusste, dass das Ende der europäischen Kolonialmächte gekommen war und Frankreich sich wieder nach Europa hinwenden musste, wenn es überhaupt noch eine große politische Rolle spielen wollte.
tagesschau.de: Die deutsch-französische Freundschaft war aber dennoch immer sehr stark geprägt von den Menschen: Adenauer und de Gaulle, Schmidt und Giscard d’Estaing, Kohl und Mitterrand. Dann kam vor einigen Jahren Gerhard Schröder an die Regierung in Deutschland – und plötzlich war von Verstimmungen, vom "Stottern des deutsch-französischen Motors" die Rede. Was war passiert?
Rudolf von Thadden: Also zunächst einmal haben die Persönlichkeiten immer eine Rolle gespielt. Denn die Positionen eines Staatspräsidenten und eines Bundeskanzlers sind ja auch sehr stark. Es ist also gar nichts ungewöhnliches, dass wir die deutsch-französischen Beziehungen über alle die Jahre hinweg immer unter dem Gesichtspunkt betrachtet haben, wie die Regierungen miteinander umgehen. Was sich geändert hat in den letzten vierzig Jahren, ist, dass die zwischengesellschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich ebenso stark und wichtig sind wie die zwischenstaatlichen.
tagesschau.de: Heißt das, dass das Fundament inzwischen so stark ist, dass tagespolitische Verstimmungen dem Verhältnis eigentlich nichts mehr anhaben können?
Rudolf von Thadden: Verstimmungen hat es immer gegeben – machen wir uns da nichts vor. Schon kurz nach der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages gab es eine tiefgehende Verstimmung zwischen Deutschland und Frankreich, weil sich durch alle Parteien hindurch eine Mehrheit gefunden hatte, die sich nicht auf einen Pakt mit Frankreich in Abwendung von Amerika einlassen wollte. Im Gegenteil: Die wollten diesen Pakt mit Frankreich so formulieren, dass er die amerikanische Präsenz in Europa nicht schwächte. Konflikte hat es immer gegeben. Aber heute sind es die vielen Partnerschaften zwischen Städten und Kommunen, deutsch-französische Gesellschaften, Vereinen, Schulen, Hochschulen - diese Beziehungen sind so dicht geworden. Ich behaupte, selbst wenn es einmal zu großen und echten Konflikten kommen sollte – was ich nicht glaube -, würde das die deutsch-französischen Gesellschaften nicht sehr stark berühren. Wir würden weiter machen.
tagesschau.de:Glauben Sie, dass die Versöhnung heute noch das große Thema der Beziehungen ist?
Rudolf von Thadden: Nein, das kann sie gar nicht. Weil ja die junge Generation, die heute tonangebend ist, den Weltkrieg gar nicht mehr miterlebt hat. Versöhnung war das Thema der Kriegsgeneration, sie können auch sagen, der Kriegs- und Nachkriegsgeneration. Heute stehen andere Themen im Vordergrund. In der letzten Generation war es die Bewältigung der Vergangenheit. Heute würde ich von der Aufgabe einer Bewältigung der Zukunft sprechen. Und das ist das Thema der jungen Generation: Die wollen wissen: Wie geht es weiter? Gibt es eine deutsch-französische Zusammenarbeit in Europa? Gibt es eine deutsch-französische Zusammenarbeit jetzt in der Irak-Krise oder gehen wir da verschiedene Wege? Ich könnte diese Liste fortführen. Versöhnung ist aber nicht mehr das Thema.
tagesschau.de: Ist der deutsch-franzöische Motor auch stark genug, ein erweitertes Europa anzutreiben?
Rudolf von Thadden: Ich würde sagen, ich sehe keine Alternative. Selbst wenn der Motor vielleicht einmal nicht stark genug sein sollte, sehe ich keinen anderen, der ihn ersetzen könnte. Ich glaube nicht an eine deutsch-englische Partnerschaft im engeren Sinne, solange England sich nicht bewegt und nicht in den Euro-Raum eintritt. Oder an eine deutsch-italienische, deutsch-spanische oder deutsch-polnische Partnerschaft – das hat doch alles nicht das Gewicht. Deshalb betont Außenminister Fischer mit Recht immer, dass man zwei Dinge zusammen haben muss, um die Dinge voranzubringen. Man braucht Staaten, die den Willen und auch das Gewicht haben, das zu tun. Und das sind im Wesentlichen Deutschland und Frankreich. England hat sicherlich auch Gewicht, abe nicht den gleichen europapolitischen Aufbauwillen wie Frankreich. Und Portugal hat vielleicht einen europapolitischen Aufbauwillen, aber nicht das Gewicht dazu.
tagesschau.de: Stichwort Irak: Wie wichtig ist es, dass Deutschland und Frankreich hier zu einer gemeinsamen Position kommen?
Rudolf von Thadden: Ich halte es für wichtig. Denn das wäre der Anfang einer europäischen Außenpolitik. Aber ich bin kein Prophet, ich bin Historiker. Und ich spekuliere deshalb nicht, ob es dieses Mal zu einer gemeinsamen Position im Sicherheitsrat kommt. Was ich sehe ist, dass man sich darum bemüht. Ob es dann am Ende dazu kommt, das werden wir sehen. Aber auch das sollten wir nicht dramatisieren. Selbst wenn wir dieses Mal noch nicht zu einer gemeinsamen Position im Sicherheitsrat kommen, werden wir neue Gelegenheiten bekommen und finden. Denn die Menschen in Frankreich und Deutschland, die wollen ja ein Zusammengehen – und das ist das Entscheidende. Die große Mehrheit der Zivilgesellschaften will das ja - und manchmal ist die Zivilgesellschaft weiter als die Regierungen.
Die Fragen stellte Andrea Krüger, tagesschau.de