Interview "Erstaunlich, wie lange sich Vorurteile halten" (21.01.2003)
Ulrich Wickert ist nicht nur Moderator der Tagesthemen, sondern auch ein ausgewiesener Kenner Frankreichs. Er ging dort zur Schule, war ARD-Studioleiter in Paris und hat zahlreiche Bücher über das Nachbarland und seine Bewohner geschrieben. tagesschau.de befragte ihn zu gegenseitigen Vorurteilen, seinen ersten Erinnerungen an Frankreich und dem französischen Humor.
tagesschau.de: Die Tagesthemen widmen dem Jahrestag des Elysée-Vertrags eine umfangreiche Berichterstattung. Spielt das Jubiläum in der öffentlichen Wahrnehmung der Franzosen eine ebenso große Rolle?
Ulrich Wickert: Seit Tagen schon berichten die französischen Zeitungen über dieses Jubiläum, und am Mittwoch haben viele französische Rundfunk- und Fernsehsender Sondersendungen eingeplant. Der Fernsehsender FR 2 und die ARD werden ja gemeinsam ein Interview mit Staatspräsident Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder aufnehmen und am Abend in ihrem jeweiligen Land ausstrahlen.
tagesschau.de: Der 40. Jahrestag des Elysée-Vertrages wird groß gefeiert - aber der Versöhnungs-Gedanke der Gründerväter hat heute nicht mehr die Bedeutung von damals. Wovon lebt diese Freundschaft heute?
Ulrich Wickert: Da die Versöhnung stattgefunden hat und das Verhältnis zwischen Franzosen und Deutschen völlig normal geworden ist, lebt die Freundschaft jetzt aus dem Bewusstsein, dass beide Länder in Europa eine besondere Verantwortung haben. Wenn Frankreich und Deutschland sich nicht einig sind, dann blockiert der europäische Einigungsprozess, wenn aber beide sich absprechen, dann geht's voran. Das hat man beim Euro gesehen, aber auch vor kurzem bei der Frage der Agrarsubventionen und dem möglichen Beitritt der Türkei zur Union.
tagesschau.de: Was können Deutsche und Franzosen voneinander lernen?
Ulrich Wickert: Beide Völker können vom jeweils anderen lernen. Uns täte es gut, wenn wir politisch in der Lage wären, unsere gebrochene Geschichte endlich zu bewältigen und unsere Identität ohne ständiges Grübeln und Selbstkasteien annähmen. Die Franzosen bewundern die Deutschen für ihre (vermeintliche) Ordnung, ihren (vermeintlichen) Fleiß und ihre (vermeintliche) Pünktlichkeit.
tagesschau.de: Wie tief sitzen Vorurteile auf beiden Seiten?
Ulrich Wickert: Es ist erstaunlich, wie lang sich Vorurteile halten können. Die Deutschen glauben immer noch, die Franzosen würden ihr Land als eine Grande Nation einschätzen, was die längst nicht mehr tun - worunter sie allerdings auch ein wenig leiden. Die Franzosen wiederum haben noch nicht festgestellt, dass die Deutschen keine brutal schreienden Nazi-Soldaten sind, sondern sich inzwischen zu einer der modernsten Demokratien in Europa entwickelt haben.
tagesschau.de: Was gehört zu Ihren ersten Erinnerungen an Frankreich?
Ulrich Wickert: Aus einem deutschen humanistischen Gymnasium kommend, musste ich 1956 in eine französische Schule bei Paris gehen. Und dort musste ich dann Latein ins Französische übersetzen, was insofern ein Ding der Unmöglichkeit war, weil ich weder Französisch noch Latein konnte. Aber der Lehrer sagte zu mir: "Du kannst das Latein auch ins Deutsche übersetzen. Ich kann etwas Deutsch, weil ich in deutscher Kriegsgefangenschaft war. Aber bitte", fügte er hinzu, "schreib nicht in Gotisch." Er meinte die Sütterlinschrift.
tagesschau.de: Gibt es einen französischen Witz über die Deutschen, den Sie besonders komisch finden?
Ulrich Wickert: Umgekehrt: Mein Metzger in Paris sagte über den stolzen gallischen Hahn: "Frankreich ist das einzige Land, das ein Wappentier hat, das auch dann noch mit stolz geschwellter Brust kräht, wenn es mit den Füßen auf dem Misthaufen steht."