Interview

Kontakt zwischen Bürgern und Politikern im Internet "Bislang gibt es nur ein Abtasten"

Stand: 22.10.2015 12:49 Uhr

Die Wähler können ab sofort die Mitglieder des Bundestags auf den Zahn fühlen: Auf Abgeordnetenwatch befragen Bürger ihre Politiker direkt. Der Wissenschaftler Hans Kleinsteuber sieht in der Online-Kommunikation zwischen Wählern und Abgeordneten bislang aber nur ein Abtasten.

Die Wähler können ab sofort die Mitglieder des Bundestags unter die Lupe nehmen: Auf Abgeordnetenwatch befragen Bürger ihre Politiker direkt. Der Wissenschaftler Hans J. Kleinsteuber sieht in der Online-Kommunikation zwischen Wählern und Abgeordneten bislang aber nur ein Abtasten.

tagesschau.de: Welche Möglichkeiten sehen Sie im Internet für die Bürger mit Politikern zu kommunizieren?

Hans J. Kleinsteuber: Das Internet ist erst seit zehn Jahren in unserem Bewusstsein, wir experimentieren noch. Das Potenzial ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Bislang kann man nur von gegenseitigem Abtasten sprechen. Aber der Zugang zu Dokumenten des politischen Betriebes ist bereits viel einfacher geworden. Früher war es beispielsweise sehr schwierig zu sehen, was die EU-Politiker eigentlich machen. Außerdem können sich die Bürger darüber austauschen, was in der Politik läuft. Oder sie können Verbesserungsvorschläge vorlegen. Das wird auch praktiziert.

tagesschau.de: Was für Leute nutzen diese Angebote?

Kleinsteuber: In Studien sprechen wir von Netizen, also Netzbürgern, die ihre staatsbürgerlichen Rechte vor allem im Netz umzusetzen wollen. Das sind normalerweise jüngere, politisch besonders interessierte Bürger. Sie haben im Unterschied zu früheren Generationen kaum eine Nähe zu politischen Parteien. Sie sehen ihr Engagement eher darin, sich zu informieren und dann vorzuschlagen, wie man Politik besser machen kann.

tagesschau.de: Passt dieses Profil auf die Macher des Projekts Abgeordnetenwatch?

Kleinsteuber: Ja, ganz sicherlich. Abgeordnetenwatch bietet eine Plattform, auf der sich Bürger und Politiker austauschen können. Bürger können Fragen stellen oder Vorschläge machen – und Politiker reagieren darauf. Damit wird die Interaktion transparenter und offener. Es wird klarer, wofür ein Politiker steht, und wie er auf Anfragen reagiert.

tagesschau.de: Welche neue Anforderungen ergeben sich für Politiker?

Kleinsteuber: Politiker neigen dazu, jedem nach dem Mund zu reden. Vor Bauern sind sie für Agrarsubventionen und vor Städtern kritisieren sie diese. Im Internet werden solche Aussagen protokolliert. Daraus wird schnell deutlich, wie häufig ein Politiker sein Fähnlein in den Wind hängt. Auch nach Jahren kann man nachlesen, was ein Politiker gesagt hat. Außerdem müssen sie sich zur Rede stellen lassen. Es steht ihnen frei, nicht auf Fragen zu reagieren. Doch dann könnten die Wähler denken: „Der ist ignorant und kümmert sich nicht um Einlassungen der Bürger.“

"Hierarchien können erschüttert werden"

tagesschau.de: Welche Chancen eröffnet das Internet für Politiker, die nicht im Rampenlicht stehen?

Kleinsteuber: Politiker, die auf das Internet gesetzt haben, haben dadurch viel Prominenz gewonnen. Der bekannteste Fall ist der in den USA zuvor unbekannte Präsidentschaftskandidat Howard Dean, der vor allem jüngere und eher ungebundene Wähler motiviert hat. Das Internet kann bestehende Hierarchien erschüttern und den Druck von unten ein wenig zu verstärken.

Abgeordnetenwatch ist ein Teil der vielen unterschiedlichen Internet-Strategien - und es ist wirklich eine gute Strategie. Zusätzlich gibt es viele NGOs, die das Internet nutzen, um politische Forderungen zu stellen und um Abläufe zu beobachten.

tagesschau.de: Warum werden Angebote wie Abgeordnetenwatch oder auch Blogs von Journalisten nur mäßig genutzt?

Kleinsteuber: Journalisten, wie auch andere Teile der Bevölkerung, reagieren eher konservativ auf das Internet. Es ist ja auch gerade bei seinen Anwendungen ein Instrument der nachfolgenden Generationen. Viele Journalisten erkennen das Potenzial nicht oder empfinden die vielen Möglichkeiten als Bedrohung. Das muss man dann der neuen Generation überlassen.

Neue Medien aus der Peripherie

tagesschau.de: Viele sprechen im Zusammenhang mit Blogs von einer Modeerscheinung.

Kleinsteuber: Es gibt einen Hype. Das wird sich wieder beruhigen. Doch gibt es interessante Blogs, die versuchen politisch tätig zu werden. Ich kann mir vorstellen, dass sich jemand die Zeit nimmt, um die Spuren eines Politikers über Jahre zu verfolgen und daraus ein Profil zu konstruieren, das für den Politiker problematisch werden kann.

Kandidaten- und Abgeordnetenwatch
Das Internet-Projekt Abgeordnetenwatch ist ab sofort auch für den Bundestag verfügbar. In Hamburg müssen sich die Abgeordneten bereits seit 2004 den Fragen der Bürger stellen, außerdem wird das Abstimmungsverhalten dokumentiert. Auch bei Landtagswahlen konnten die Wähler bereits über Kandidatenwatch den Bewerbern auf den Zahn fühlen. Basis für das neue Abgeordnetenwatch sind die Fragen der Bürger vor der Bundestagswahl. Die Antworten könnten einige Politiker in Erklärungsnotstand bringen, beispielsweise was die Haltung zur Mehrwertsteuer angeht.

tagesschau.de: Sind die Blogs die neuen Fanzines, also Zeitschriften aus Subkulturen, von denen einige etablierte Magazine geworden sind?

Kleinsteuber: Der Begriff subkulturell ist ganz wichtig. Auch schon in vergangenen Mediengenerationen kamen aus der Peripherie, aus alternativen Milieus neue Medien, die dann zum Mainstream wurden. Das kann man sich hier auch vorstellen. In welcher Form, das lässt sich noch nicht abschätzen. Die Blogs sind ja auch sehr uneinheitlich.

tagesschau.de: Politiker versuchen das Internet für sich zu nutzen. Bei Abgeordnetenwatch könnten sie sich selbst Fragen stellen oder Fragen bei Anhängern in Auftrag geben.

Kleinsteuber: So etwas hat es schon immer gegeben, man lässt sich lieber von Anhängern als von Gegnern befragen. Da ist das Internet nur ein neuer Ort. Das wird passieren, der Leser wird das aber schnell merken. Wenn man sich die Fragen von Kandidatenwatch anschaut, dann sind die meisten eher kritisch.

Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de