Porträt einer mehrfachen Wandlung Der real existierende Konvertit
Vom SED-Parteisöhnchen zum überzeugten Islamisten: Der Berliner Axel Mylius war einer der wenigen deutschen Konvertiten in der DDR. Seine Geschichte erzählt viel über die Blutleere des Sozialismus und die Faszination der Religion.
Von Patrick Gensing, tagesschau.de
Auf den ersten Blick ist Axel Mylius ein Berliner wie viele Tausende andere: Nicht auf den Mund gefallen, nicht übertrieben höflich und groß geworden unweit der Frontlinie zwischen Ost und West. Der 52-Jährige wuchs im Ostteil der Stadt auf, richtete sich seine Nische im SED-Staat ein.
Mit der Opposition hatte er nichts zu tun, die DDR erschien ihm das bessere Deutschland zu sein. Dennoch machte Mylius sich auf die Suche, denn er war überzeugt, dass eine sozialistische Gesellschaft nicht nur auf der Basis von Bürokratie gebaut werden könne, sondern dass es auch einen spirituellen Überbau geben müsse.
Die Religion schien ihm der richtige Weg zu sein, Mylius konvertierte in der DDR zum Islam, wanderte nach der Wende durch die islamistische Szene - und stieg schließlich wieder aus. Danach brauchte er noch Jahre, um die radikale Ideologie wieder abzuschütteln. Mittlerweile kann er diese Zeit reflektieren. Er warnt: Die Fundamentalisten machten aus jungen Konvertiten "geistige Zombies".
Allein im Plattenbau
Ich treffe Axel Mylius in Friedrichsfelde, tief im Osten Berlins. "Eine gute Gegend", preist er seinen Kiez an. Er wohnt und lebt bereits seit den 1960er-Jahren hier, zuerst mit Oma und Mutter in einer Zweiraumwohnung. Mylius ging hier zur Schule, jobbte als Altenpfleger, Bühnenarbeiter und im Supermarkt. Die Jugend im Osten sei der im Westen ziemlich ähnlich gewesen, glaubt er: Mit dem Moped fahren, in der Disko rumhängen und "Bravo" lesen. "Durch die Nähe zur Mauer und zu den West-Sendern hörten wir als Jugendliche die gleiche Musik."
Wir setzen uns in ein Biercafe, das große Pils kostet 1,40 Euro. Eine ehrliche Gegend, positiv formuliert. Man könnte auch von Wendeverlierern sprechen. Aus den Boxen dröhnen die "sieben Brücken", über die man gehen müsse. Ein Stück Osten. Vergangenheit, die heute hier die Menschen verbindet. Für mich eine ferne Welt. Doch auch Mylius gehört nicht wirklich dazu. Die meiste Zeit verbringt er in seiner Ein-Raum-Wohnung, die er vollgestopft hat mit Büchern, Filmen und Unterhaltungstechnik aus verschiedenen Jahrzehnten: vom Diaprojektor bis zum Smartphone.
Mylius hat kaum noch Freunde und Familie. Vor wenigen Jahren starb seine Mutter. Auf dem Sterbebett hatte sie ihrem Sohn noch mit auf dem Weg gegeben, sich weiter gegen die neuen Nazis zu wehren - mit aller Kraft. Dieser Aufgabe hat er sich seitdem gewidmet. Er dokumentiert braune Propaganda aus dem Internet, legt sich bei Twitter mit Neonazis an und erstattet reihenweise Anzeigen wegen Volksverhetzung. Angst vor Racheakten hat er keine. Mylius kann wenig erschüttern, denn er hat kaum noch etwas zu verlieren. Der Verlust der Mutter schmerzt ihn aber bis heute.
Mitläufer in der DDR
Kriegskind und SED-Funktionärin war seine Mutter, ihr Vater ein gesuchter SS-Mann: Paul Mylius soll wenige Jahre nach dem Krieg in Sachsen an Lungenentzündung gestorben sein. Er habe seinen Großvater nie getroffen, sagt Axel Mylius - und fügt an: glücklicherweise. Die Mutter wurde durch den Krieg, die Nazi-Verbrechen und das Wüten des Vaters zur überzeugten Antifaschistin. Der Aufbau der DDR sei für sie und ihren Freundeskreis eine historische Notwendigkeit und echte Überzeugung gewesen, so Mylius.
Die Mutter behütete ihren Axel, und der arrangierte sich mit dem System. Zwar verließ er wegen Aufmüpfigkeit und Desinteresse früh die Schule, doch Großaufmärsche von Staat und FDJ wie am 1. Mai nahm er mit - ohne Widerspruch. Er sei gelangweilt mitgetrabt, habe sich aber auch nicht eingeengt gefühlt durch die Mauer. "Ich habe in einer freiwillig gewählten Nische innerhalb dieser geschlossenen Gesellschaft gelebt", sagt Mylius. "Meine Teenager-Bude war voll geknallt mit Postern aus der 'Bravo', die meine Oma aus West-Berlin mitbrachte."
Er jobbte in den 1980er-Jahren als Bühnenarbeiter bei der Staatsoper und lernte dort den Sohn eines bekannten DDR-Schriftstellers kennen. Die Freunde waren sich darin einig, dass "zwar die Ziele der DDR durchaus eine hehre Motivation und speziell der Antifaschismus ihre höchste Berechtigung" hätten, dass "aber andererseits auch der DDR-Bürger ein ausschließlich konsumierendes Wesen war, das allein durch Propaganda nicht zu veredeln war". Die jungen Männer erkannten die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit des real existierenden Sozialismus. Der langjährige Freund habe sich aus Verzweiflung darüber das Leben genommen, sich buchstäblich zu Tode gesoffen. Mylius blieb zurück - und suchte Antworten in der Religion.
Das Glaubensbekenntnis
"Wir existieren nicht einfach so planlos - schon gar nicht als Wesen, die Schönheit und Mitleid erkennen können", ist Mylius bis heute überzeugt. Genau deswegen reichte ihm auch die trockene Vision einer DDR-Gesellschaft nicht mehr aus. "Der Mensch ist kein mathematisch berechenbares Wesen, das ausschließlich der sozialen Vernunft folgt. Diese Gesellschaft konnte daher nur geformt werden, wenn seine Individuen von einer Art Spiritualismus beseelt sind." Stattdessen wurde pflichtgemäß mit den DDR-Fähnchen gewinkt.
Mylius fand keine Subkultur, in der er seine Ideen diskutieren konnte, stattdessen zog er sich zurück, verschlang Literatur aus dem Westen. Zum Islam kam er schließlich über die Politik: In dieser Religion glaubte Mylius den Spiritualismus und gleichzeitig eine globale sozialistische Blaupause gefunden zu haben. Er besorgte sich den Koran und fand darin Passagen, die ein für ihn "gottgewolltes sozialistisches Weltbild" zeichneten. "Mich faszinierte die Radikalität sowie Einfachheit der Aussagen." Besonders Libyen und Revolutionsführer Muammar al Gaddafi interessierten ihn. Das "Grüne Buch" von Gaddafi erschien ihm wie eine Offenbarung. Der Islam bot dem jungen Mann "ein geschlossenes Weltbild" als Lösung an.
1986 ging Mylius das erste Mal zu einem Gebet - im ehemaligen Reisebüro von Ägypten an der Friedrichstraße. "Anwesend waren etwa 60 Muslime - Studenten, Botschaftspersonal und andere Muslime, die in der DDR lebten", erinnert er sich. Die Männer luden ihn äußerst freundlich und höflich zum Gebet ein. Mylius fühlte sich sofort wohl und erlernte die Gebetsformeln für die jeweiligen fünf Gebete im Original, also auf Arabisch, inklusive seiner persönlichen Lieblingssuren. Zwei Jahre später konvertierte er, legte vor zwei jordanischen Studenten die Schahada ab, das Glaubensbekenntnis. In seiner Glaubensurkunde des "Islam-Archiv-Deutschland" wird er zu Axel Omar Mylius. Er lernte zahlreiche Muslime kennen, freundete sich mit libyschen Studenten in Dresden an. Er fühlte sich in der islamischen Gemeinschaft willkommen und zu Hause. Auf der Suche nach der Symbiose aus Sozialismus und Spiritualismus sei er endlich fündig geworden - davon war Mylius damals zumindest überzeugt.
Aus Utopie wird Hass
Mylius fixierte sich zunehmend auf den Koran. Dann fiel die Mauer: Das eintönige DDR-Leben existierte nicht mehr, die Nische war über Nacht verschwunden. Mylius suchte noch stärker nach Orientierung und Halt, flüchtete sich weiter in den Glauben, verstand den Islam als "linke Offenbarung". In Berlin entwickelt sich eine neue muslimische Gemeinschaft - mit Gläubigen aus Ost und West. In West-Berlin traf er auf Sunniten, die einem äußerst traditionellen Islam lebten. Mit dem linken Weltbild von Mylius passte diese Auslegung nicht zusammen. Er versuchte sein Glück bei schiitischen Konvertiten, die vor allem politisch dachten. Er sei für die Schiiten ein gefundenes Fressen gewesen: linker Konvertit, Antiimperialist, rhetorisch geschult durch die DDR-Propaganda gegen den Westen. Sein Islam transformierte sich zur Kampfreligion, die Idee eines religiös-motivierten Sozialismus verwandelte sich in puren Hass auf den Westen, Imperialisten und Ungläubige. Seine Radikalität ging soweit, dass er die Mehrheit der Muslime, die weder "antiwestlich" geschweige radikal lebten, als "Verräter" verachtete.
Mylius lebte in einer Parallelwelt, tingelte durch islamische Gemeinden in Deutschland: Hamburg, Aachen, Clausthal-Zellerfeld. Er lernte Muslime kennen, die sich nach außen äußerst moderat gaben, aber tatsächlich radikale Ansichten vertraten. Kurz nach der Wende transportierte Mylius eine Kiste voller Kassetten von einem Treffen in Hamburg nach Berlin: Geschenke an die islamischen Brüder im Osten und für den Aufbau eines islamischen Zentrums. Er verkehrte in zahlreichen Hinterhof-Moscheen, vor allem im Westteil der Stadt, in denen offen gehetzt worden sei. Er habe aber auch viele seriöse Gebetsstätten kennen gelernt - insbesondere türkische, betont Mylius.
Er wurde sogar Vorsitzender einer "Islamischen Gemeinde Berlin", ein Verein, der lediglich auf dem Papier existierte, und pflegte gute Kontakte zu Iranern, die offenkundig aus dem Umfeld der Botschaft in Berlin stammten. Anfang der 1990er-Jahre, so sagt Mylius heute, entwickelte er sich zum "antikapitalistischen Islamisten" und großen Freund des iranischen Gottesstaats. Er veröffentlichte Texte über die "Fragwürdigkeit der Demokratie", schließlich sei ihm sogar angeboten worden, ein Ausbildungslager im Jemen zu besuchen, um danach im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien auf Seiten der Muslime zu kämpfen. Er lehnte ab. Nicht aus pazifistischen Gründen, wie Mylius betont, sondern weil er seine Aufgabe "in der Agitation gegen den Westen" sah.
Der Ausstieg
Je tiefer Mylius in die islamistische Szene einstieg, umso stärker meldeten sich auch Zweifel. Denn er stieß immer öfter auf blanken und radikalen Antisemitismus. Angebliche jüdische Verschwörungen seien in diesen Kreisen quasi die einzige Erklärung für politische und wirtschaftliche Probleme gewesen, sagt er. Eine Weltsicht, mit der Mylius sich nicht anfreunden konnte und wollte. Die Besuche in Auschwitz und anderen deutschen Vernichtungslagern hatten ihm gezeigt, wohin der Judenhass führen kann. Er habe junge Konvertiten kennen gelernt, die in die Hände der Fundamentalisten geraten seien und schnell einem irrationalen Hass sowie einem hysterischen Antisemitismus verfallen seien. "Diese jungen Konvertiten denken, dass quasi Gott aus ihnen spräche", meint Mylius. "Ein solcher Mensch sieht sich nur noch als ein Werkzeug Gottes."
Dazu kam das diffuse Gefühl, sich komplett verrannt zu haben. Dinge, die er liebte, musste er seiner radikalen Ideologie folgend hassen: Musik, Filme, Kunst. All die Antworten auf seine Fragen schienen plötzlich verlogen. Nach und nach zieht sich Mylius Mitte der 1990er-Jahre aus der islamistischen Szene zurück, lässt Kontakte langsam einschlafen. Ein paar Mal rufen die alten Weggefährten noch an, dann ist Ruhe. "Ich brauchte Jahre, um mich wieder an Dingen erfreuen zu können und nicht mehr in einer antiwestlichen und kulturfeindlichen Hass-Starre zu versinken", erinnert sich Mylius.
Was er immer wieder betont: Er will seine Geschichte nach all den Jahren des Schweigens nicht erzählen, um Vorurteile gegen den Islam zu befeuern, sondern um vor den Hardlinern zu warnen, vor ihrem Antisemitismus und Fanatismus. Er habe keine Vorurteile gegen diese Religion. "Mein Fehler war, von ihr Antworten zu erwarten, die es von einer Religion nicht gibt." Mylius sagt, er habe viele Freunde gewonnen, zahlreiche Muslime kennen gelernt, "die freundliche, liebevolle und kultivierte Menschen sind". Das Problem seien die Fundamentalisten, die auch in den gemäßigten Muslimen Verräter sehen. "Der Mensch kann und wird niemals so vollkommen sein, wie es nach fundamental-islamistischer Auslegung verlangt wird." Es seien erst die Schwächen, die den Mensch zum Menschen machen.
Was junge Leute heute an radikalen Islamisten fasziniert, das kann Mylius gut nachvollziehen: Eine geschlossene Ideologie, eine Kampfgemeinschaft - und einfache Antworten auf die vielen komplizierten Fragen des Lebens.