Jurist kritisiert Steuersenkungspläne "Wir müssen uns selber die Hände binden"
"Koalitionspolitische Räson" vermutet der Jurist Joachim Wieland hinter der Entscheidung der Bundesregierung, ab 2013 die Steuern senken zu wollen. Steuersenkungen widersprächen der Logik der gesetzlichen Schuldenbremse, so Wieland im Interview mit tagesschau.de. Eine Klage hält er für aussichtsreich.
tagesschau.de: Die Regierung hat angekündigt, ab 2013 die Steuern zu senken. Was halten Sie davon?
Joachim Wieland: Wenn wir uns die Euro-Krise anschauen und die hohen Verpflichtungen Deutschlands, die Bürgschaften und Gewährleistungen und auch, wie sehr wir für Schulden von Banken aufkommen müssen, ist meines Erachtens eine Steuersenkung verfehlt. Erstens werden die Ausgaben des Staates und seine Schuldenverpflichtungen erheblich steigen. Und zweitens floriert zurzeit die Wirtschaft, so dass man sie nicht weiter ankurbeln muss. Ich glaube, dass man hier aus koalitionspolitischer Räson und nicht aus einem vernünftigen wirtschaftlichen Gedanken heraus handelt.
Seit 2007 lehrt Joachim Wieland an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, seit Oktober 2011 ist er deren Rektor. Zu seinem Arbeitsgebiet zählen insbesondere das Verfassungsrecht, das Steuerrecht und das öffentliche Wirtschaftsrecht. Promoviert hat Wieland über "Die Freiheit des Rundfunks".
2005 vertrat Wieland Bundespräsident Horst Köhler im Rechtsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht. Es ging um die Frage, ob Köhlers Entscheidung, den Bundestag aufzulösen und damit Neuwahlen herbeizuführen, rechtens gewesen war.
tagesschau.de: Mit der so genannten Schuldenbremse verpflichtet sich die Regierung dazu, immer weniger neue Schulden zu machen. Muss die Regierung dann auch auf Steuersenkungen verzichten?
Wieland: Ja. Der Grundgedanke der Schuldenbremse ist es, dass der Staat in wirtschaftlich schlechten Zeiten Kredite aufnehmen kann. In wirtschaftlich guten Zeiten, wie das gegenwärtig in Deutschland der Fall ist, muss der Staat Kredite zurück führen. Das kann er aber nur, wenn er in den wirtschaftlich guten Zeiten nicht die Steuern senkt. Würde er die Steuern senken, dann würde dieses nicht eingenommene Geld nicht zur Schuldenrückführung gebraucht werden können. Als man die Schuldenbremse ins Grundgesetz aufgenommen hat, hat man ausdrücklich gesagt: Wir müssen uns selber die Hände binden. Bisher ist es immer so, dass die Wohltaten in Zeiten der guten Konjunktur verteilt werden, und genau damit werden die Fehler gemacht! Diese Fehler beschränken den Handlungsspielraum des Staates in Zeiten schlechter Steuereinnahmen.
"Die Schuldenbremse verlangt eine symmetrische Politik"
tagesschau.de: Die Regierung sieht keinen Verstoß gegen die Schuldenbremse. Sie argumentiert, dass die Steuersenkung die Existenzsicherung erhöht und die kalte Progression glättet. Ist diese Argumentation so ganz von der Hand zu weisen?
Wieland: Die Argumentation ist aus sich heraus durchaus verständlich. Die kalte Progression führt tatsächlich dazu, dass immer mehr Steuerpflichtige relativ höhere Steuern zahlen müssen. Das ändert aber nichts daran, dass auch eine Veränderung als Ausgleich für die kalte Progression zu Steuermindereinnahmen führt. Genau das aber wollte man mit der Schuldenbremse verhindern: Dass in wirtschaftlich guten Zeiten der Staat auf Einnahmen verzichtet und damit auf die Möglichkeit, seine sehr hohe Staatsverschuldung zurück zu führen. Wir sehen ja in der Euro-Krise, was das letztlich bedeutet. Wann soll der Staat denn seine Verschuldung zurück führen, wenn nicht in Zeiten, wo es der Wirtschaft gut geht und die Einkommen entsprechend steigen?
Der Haushalt für 2010 diente als Berechnungsgrundlage für die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse. Sie schreibt vor, die Neuverschuldung bis 2016 auf rund zehn Milliarden Euro stetig zu senken. Dafür wird die jährliche Neuverschuldung des Bundes ab 2011 in gleichen Schritten heruntergefahren.
Je höher das strukturelle Defizit in 2010 angesetzt war, desto höher ist auch der Kreditspielraum des Bundes in den nächsten Jahren bis 2016. Die Schuldenbremse sieht Ausnahmen vor. So kann der Staat eine von der Normallage abweichende Konjunkturlage auffangen, in dem er im Abschwung Kredite aufnimmt, die im Aufschwung wieder zurück zu führen sind.
tagesschau.de: Heißt das in letzter Konsequenz, dass die Steuern bis zum Abbau der Schulden auf gar keinen Fall gesenkt werden dürfen?
Wieland: Nein. Das hängt laut Schuldenbremse immer von der konjunkturellen Situation ab. Sobald die konjunkturelle Lage sich verschlechtert, sobald eine Rezession deutlich droht oder gar schon eingetreten ist, darf der Staat auch die Steuern senken und in gleichem Maße seine Verschuldung erhöhen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Er soll nur nicht in einer guten Wirtschaftslage durch eine Steuersenkung die Wirtschaft weiter ankurbeln und die Staatsverschuldung nicht zurück führen. Die Schuldenbremse verlangt eine symmetrische Politik im Steuerrecht.
Das Versäumnis der letzten 40 Jahre
tagesschau.de: Das klingt einigermaßen absurd: In schlechten Zeiten werden die Spielräume größer und in guten Zeiten kleiner...
Wieland: Das mag nicht leicht verständlich sein, aber dahinter steckt folgender Grundgedanke: In schlechten Zeiten sinken die Steuereinnahmen des Staates ohnehin, weil zum Beispiel die Kaufkraft geringer wird. Da kann der Staat dann gegensteuern, indem er Steuern senkt und selber Schulden aufnimmt. Aber irgendwann, und das ist die Crux des ganzen Unternehmens, muss die Gegenbewegung eintreten. Das hat man in Deutschland in den letzten 40 Jahren leider nicht hinreichend beachtet. Darum hat man sich jetzt mit der Schuldenbremse die Hände gebunden, um in guten Zeiten keine steuerpolitischen Wohltaten zu verteilen.
Die kalte Progression entsteht, wenn moderate Gehaltserhöhungen nur die Inflation ausgleichen, der Arbeitnehmer durch sie aber in einen höheren Einkommensteuertarif rutscht. So muss er mehr Steuern zahlen (Progressionseffekt). Weil die Inflation die Erhöhung einerseits auffrisst, und wegen der höheren Steuern andererseits sinkt seine Kaufkraft also.
Weil die Finanzbehörden von diesem Modell überproportional profitieren, sprechen Politiker, die die kalte Progression abschaffen wollen, auch von "heimlichen Steuererhöhungen". Bekämpft werden kann der Effekt, indem der Verlauf der Steuertarife geändert wird - auch "Steuerbremse" genannt.
tagesschau.de: Andere Parteien, andere Ideen: Die Linkspartei will eine mögliche Steuersenkung für die unteren Einkommensgruppen mit einer Millionärssteuer gegenfinanzieren, die SPD favorisiert eine Börsenumsatzsteuer. Gehen diese Rechnungen auf?
Wieland: Eine Millionärssteuer betrifft nur relativ wenige Personen. Wenn man realistisch bleibt, ist der Ertrag einer solchen Steuer nicht sehr hoch und ermöglicht keine große Gegenfinanzierung. Bei einer Börsenumsatzsteuer hängt deren Ertrag und Erfolg davon ab, ob es gelingt, sie zumindest auf europäischer Ebene einzuführen, besser noch weltweit. Andernfalls tätigen die Steuerpflichtigen ihre Börsengeschäfte im Ausland.
Aussichtsreiche Klage in Karlsruhe
tagesschau.de: Die SPD will gegen die angekündigte Steuersenkung vor dem Bundesverfassungsgericht klagen. Für wie aussichtsreich halten Sie dieses Vorhaben?
Wieland: Ich halte das für durchaus aussichtsreich und der Logik der Schuldenbremse folgend. Bisher hat aber das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsfrage noch nicht entschieden. Man begibt sich also auf Neuland. Aber in der Logik der neuen Schuldenbremse läge es, dass Karlsruhe in diesem Fall eingreift.
Die Fragen stellte Ute Welty, tagesschau.de