NATO will Zahl der Atomwaffen verringern "Das ist ein Aufbruch in Richtung Abrüstung"
Die NATO-Bündnispartner haben bei ihrem Gipfel in Chicago erklärt, langfristig die Zahl der taktischen Atomwaffen verringern zu wollen. In einem Dokument mit dem Namen "Posture Review" schreiben die NATO-Partner fest, nach und nach auf das Verschwinden atomarer Sprengköpfe aus den Arsenalen hinzuwirken. Außenminister Guido Westerwelle erklärt im Gespräch mit tagesschau.de, was die Absichtserklärung bedeutet.
tagesschau.de: Herr Außenminister, Sie haben das Dokument, das die NATO zur nuklearen Bewaffnung veröffentlicht hat, als bemerkenswert bezeichnet. Was ist daran so bemerkenswert?
Guido Westerwelle: Das Entscheidende ist, dass zum ersten Mal ein Sicherheitsbündnis wie die NATO die Abrüstung zum Bestandteil der eigenen Strategie macht. Damit wird deutlich, dass Abrüstung eben nicht weniger Sicherheit bedeutet, sondern auch Sicherheitszuwachs und Sicherheitsgewinn.
Dass die taktischen Nuklearwaffen jetzt auch in diese Abrüstungsgespräche mit einbezogen werden sollen, das begrüße ich sehr. Die taktischen Nuklearwaffen sind ein Relikt von gestern. Wir wollen in den Gesprächen mit Russland natürlich auch dafür sorgen, dass diese taktischen Nuklearwaffen nach und nach verschwinden.
"Abrüstung ist ein Bohren dicker Bretter"
tagesschau.de: Sie setzen sich für den Abzug der taktischen Atomwaffen ein, aber das Dokument selbst sagt ja nicht, dass abgezogen werden soll. Es soll also nur gesprochen werden?
Westerwelle: Ja, aber das ist so, wie das in Abrüstungsfragen immer läuft. In Abrüstungsfragen werden Linien vorgegeben auf solchen Gipfeln. Das ist dann die Richtungsvorgabe für die anstehenden Gespräche, zum Beispiel mit Russland. Dem werden wir nachgehen, und das wird dann auch Schritt für Schritt umgesetzt.
Abrüstung ist ein Bohren dicker Bretter. Keine Frage, das braucht Geld, das braucht Ausdauer. Das ist bei Abrüstung nie anders gewesen, aber am Ende ist es ein Sicherheitsgewinn für die Welt. Deswegen werden wir auch hier ausdauernd und nachhaltig die Verhandlungen führen.
Das Nordatlantische Militärbündnis hat auf dem Gipfel in Chicago auch eine neue Leitlinie für die Abschreckungs- und Verteidigungsstrategie beschlossen. In einem Kapitel befasst sich das Papier mit der Rolle von strategischen und taktischen Atomwaffen. Dabei wird erstmals die Bedeutung von deren Abrüstung hervorgehoben.
Zwar heißt es in der Erklärung, dass Atomwaffen "ein Kernbestandteil" der NATO-Abschreckungsfähigkeit seien und es bleiben werden, so lange es Kernwaffen gibt. Andererseits wird betont, dass nach Wegen gesucht werden soll, die Anzahl von taktischen Atomwaffen zu verringern. Dabei soll auf die Teilhabe der betroffenen Staaten geachtet werden. Dieser Punkt geht vermutlich auch auf eine deutsche Initiative zurück.
Es wird aber auch betont, dass die Mitgliedsstaaten, in denen Atomwaffen stationiert sind, die Arsenale schützen und pflegen müssen. Dazu gehöre auch die Unterstützung durch die Führung der jeweiligen Länder. Das Papier spiegelt damit die widersprüchlichen Interessen der verschiedenen NATO-Staaten wider.
Wie Russland überzeugen?
tagesschau.de: Wie wollen Sie denn Russland überzeugen, da tatsächlich irgendwann zuzustimmen?
Westerwelle: Man sieht ja auch, dass die finanziellen Notwendigkeiten, dass der Druck auf die nationalen Haushalte das Seine dazu beiträgt. Abrüstung ist ja manchmal auch das Ergebnis von Druck auf nationale Haushalte. Das ist schon früher so gewesen. Hauptsache, das Ergebnis stimmt, nämlich weniger Nuklearwaffen - vor allem weniger taktische Nuklearwaffen.
Das ist jetzt noch kein Durchbruch, was hier beschlossen worden ist, in dem Sinne, dass alles gelöst ist. Aber es ist ein Aufbruch. Ein Aufbruch in Richtung Abrüstung. Der Zug der Abrüstung ist jetzt stabil auf dem Gleis und nimmt immer mehr Tempo auf. Wie immer in der Geschichte ist Abrüstung eine Angelegenheit, die Ausdauer und Kraft braucht.
Die US-Armee hat nach einer Schätzung der Federation of American Scientists (2011) derzeit noch etwa 150 bis 200 taktische Atombomben stationiert. Diese sollen in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei gelagert sein. Davon sind auf dem rheinland-pfälzischen Fliegerhorst Büchel vermutlich zwischen zehn und 20 Atomsprengköpfe stationiert.
Taktische Atomwaffen sollten im Krieg gegen militärische Einheiten auf dem Schlachtfeld und kleinere Infrastrukturziele eingesetzt werden. Dagegen richten sich strategische Atomwaffen gegen Städte, Ballungsräume und gegnerische Raketensilos.
"Besonders glaubwürdig, wenn man die eigenen Atomwaffen-Arsenale reduziert"
tagesschau.de: Wie lange wird der Zug noch brauchen, bis er am Ziel ankommt - fünf, zehn oder zwanzig Jahre? Gibt es da einen zeitlichen Horizont?
Westerwelle: Wenn man sich die vergangenen zwei Jahre anguckt, dann kann man das auch begrüßen. Wir haben in den letzten zwei Jahren Abrüstungs-Erfolge erzielt, die nicht zu unterschätzen sind, gerade im Bereich der nuklearen Abrüstung. Das hat ja vor kurzem noch niemand für möglich gehalten.
Wenn man anderen Staaten sagt, dass sie sich nicht nuklear bewaffnen sollen - und das tun wir - dann ist man als Westen und als Bündnis natürlich besonders glaubwürdig, wenn man die eigenen Atomwaffen-Arsenale auch reduziert. Insoweit hängen ja auch nukleare Nichtverbreitung und Abrüstung eng miteinander zusammen. Das ist ein gegenseitiges Versprechen.
Das Interview führte Bernd Riegert.