Interview

Politikwissenschaftler Langguth zum Westerwelle-Rückzug "Die FDP ist in einem halbanarchischen Zustand"

Stand: 04.04.2011 16:59 Uhr

Unsouverän und ohne Perspektive - das Urteil von Politikwissenschaftler Langguth über Noch-FDP-Chef Westerwelle fällt verheerend aus. Im Interview mit tagesschau.de rät Langguth den Liberalen dazu, reinen Tisch zu machen. Der Partei fehle aber derzeit das Kraft- und Machtzentrum.

tagesschau.de: FDP-Generalsekretär Lindner hat von einem "souveränen Schritt" Westerwelles gesprochen - teilen Sie diese Einschätzung? Reicht es, den Parteivorsitz und die Funktion des Vizekanzlers aufzugeben?

Gerd Langguth: Wenn Westerwelle wirklich souverän wäre, dann hätte er die Zeichen der Zeit schon früher erkannt und auch frühzeitig Konsequenzen gezogen. Nein, er hat diesen Schritt in letzter Minute getan, um Haut und Haar zu retten. Fast bis zuletzt hat er daran festhalten wollen, Vizekanzler zu bleiben. Das wäre natürlich völlig unmöglich gewesen. Der sogenannte Vizekanzler, den es ja dem Grundgesetz zufolge gar nicht gibt, ist schließlich der Vormann der FDP in den Gesprächen mit der Kanzlerin, auch in den vertraulichen Gesprächen.

Zur Person

Gerd Langguth ist politischer Publizist und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn. Er beschäftigt sich mit den politischen Parteien und analysiert politische Entscheidungsprozesse. Langguth war lange im Bundesvorstand der CDU und ist Biograph von Bundeskanzlerin Merkel.

tagesschau.de: Und sein Amt als Außenminister? Steht das zur Disposition?

Langguth: Das Außenministeramt ist natürlich insofern ein besonders schönes, weil es normalerweise dem Amtsinhaber durch das Abschreiten der Roten Teppiche Ruhm und Ehre bringt. Das aber ist bei Guido Westerwelle nicht der Fall. Die Beliebtheitswerte seiner Vorgänger lagen sehr viel höher: Kinkel 54 Prozent, Fischer 67 Prozent, Steinmeier 62 Prozent - Westerwelle lediglich 24 Prozent! Er wird dieses Amt behalten wollen, aber das ist natürlich ein Kompromiss. Die beste Lösung für die FDP wäre es, einen Teil des Kabinettspersonals auszuwechseln und damit auch Westerwelle insgesamt ganz auszuwechseln. Aber die, die jetzt an seine Stelle treten, die sind auch seine Gewächse. Die haben natürlich auch eine innere Loyalität ihm gegenüber, und deswegen bleibt er Außenminister.

tagesschau.de: Ist es klug, noch keinen Nachfolger zu präsentieren, zumindest nicht offiziell?

Langguth: Ich halte das nicht für sonderlich klug. Aber man muss natürlich sehen: Die FDP ist in einem halbanarchischen Zustand. Es gibt kein wirkliches Kraft- und Machtzentrum, das solche Fragen entscheidet. Wenn zum Beispiel Herr Brüderle um sein Amt kämpft, dann hat er Gegner und Anhänger und eine große Menge von Leuten, die sich nicht festlegen wollen. Jetzt hofft man auf die Landesvorsitzenden und dass mit ihnen zusammen die Schritte dann einfacher zu entscheiden sind.

tagesschau.de: Welchen Einfluss kann und will die Kanzlerin derzeit auf die Entscheidungen der FDP nehmen?

Langguth: Sie kann gar keinen Einfluss nehmen. Nach dem Koalitionsvertrag treffen die Koalitionsparteien ihre eigenen Entscheidungen, unbeeinflusst vom Koalitionspartner. Ich denke, dass Frau Merkel den Abgang ihres Vizekanzlers Westerwelle mit einem weinenden Auge sieht. Persönlich hat sie gut mit ihm zusammengearbeitet.

tagesschau.de: Wo sehen Sie Westerwelles persönliche Zukunft? Wird er noch eine politische Rolle spielen?

Langguth: Er wird versuchen, so lange wie möglich an Bord zu bleiben. Er hat ja keine andere Perspektive. Er ist 49 Jahre alt und muss irgendwie überleben.

tagesschau.de: Müsste sich die FDP unter Westerwelles Nachfolger nicht ganz neu erfinden? Denn liberal sind die anderen Parteien ja inzwischen auch…

Langguth: Das ist ja das Grundproblem. Die CDU ist liberal und konservativ und sozial. Sie speist sich aus diesen drei Strömungen. Ähnlich ist es aber auch bei der SPD. Von den sozialstrukturellen Daten her entsprechen die Grünen inzwischen am ehesten einer liberalen Partei. Hier finden wir die Besserverdienenden und die Bessergebildeten. Das war mal so bei der FDP. Aber ohne die FDP wäre die parteipolitische Landschaft in Deutschland ein Stück weit ärmer.

tagesschau.de: Warum? Wer braucht denn dann noch eine FDP, wenn sich die Parteien derart aneinander annähern?

Langguth: Die Liberalen haben die spezifische Aufgabe, für Freiheit zu sorgen. Und zwar für Freiheit in den verschiedensten Bereichen, ob es nun Datenschutz ist oder der Abbau von Überregulierungen in der Wirtschaft ist. Das können sie sehr viel präsziser tun, als eine große Volkspartei tun kann, die mehr Rücksichten nehmen muss.

Die Fragen stellte Ute Welty, tagesschau.de