Mediziner Windeler leitet Arzneiprüfstelle "Diplomatie nützt nicht viel"
Deutschland hat einen neuen obersten Arzneimittelprüfer: den Mediziner Jürgen Windeler. Sein Vorgänger, Peter Sawicki, galt als Kritiker der mächtigen Pharmalobby. Windeler will diplomatischer sein. In Streitfragen nütze das nicht viel, sagt Gesundheitsexpertin Ursel Sieber im tagesschau.de-Interview.
tagesschau.de: Jürgen Windeler übernimmt heute die Leitung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Er ist Nachfolger des pharmakritischen und patientenorientierten Arzneiprüfers Peter Sawicki. Was kann man von Jürgen Windeler als neuem IQWiG-Chef erwarten?
Ursel Sieber: Ähnlich wie Peter Sawicki steht Jürgen Windeler von seiner Grundeinstellung so manchen Praktiken der Pharmaindustrie kritisch gegenüber. Er bemängelt zum Beispiel die Schieflage in vielen Studien der Industrie. Die Firmen wollen ja belegen, dass ihre neuen Medikamente besser sind als die bisherigen Medikamente, obwohl das oftmals nicht der Fall ist.
Wenn das IQWiG unter der Leitung von Herrn Windeler Nutzenbewertungen für Medikamente oder Behandlungen erstellt, muss er sich festlegen, wenn ein Medikament keinen Zusatznutzen hat. Dabei muss er mit Gegenwind von den Kräften rechnen, die auch an Peter Sawickis Stuhl gesägt haben: Das sind, erstens, die betroffenen Pharmafirmen selbst. Zum anderen ist das die Deutsche Krankenhausgesellschaft - die Lobbyorganisation der Kliniken. Sie hat in Deutschland eine Art Freibrief für neue Behandlungsverfahren und kann diese einführen, ohne dass der Nutzen vorher in Studien geprüft wurde. Drittens sind es die Fachverbände mit Professoren, die bislang die Behandlungsempfehlungen für die praktizierenden Ärzte, sogenannte "Leitlinien", in Alleinherrschaft formuliert haben.
Die Medizinjournalistin Ursel Sieber berichtet über Skandale im Gesundheitswesen. Sie arbeitet seit 20 Jahren für die ARD-Fernsehmagazine Monitor und Kontraste. In ihrem neuen Buch "Gesunder Zweifel", das am 4. September erscheint, beschreibt Sieber das Lobbying im Gesundheitswesen.
tagesschau.de: Warum musste Sawicki überhaupt gehen?
Sieber: Offiziell wurde Sawickis Vertrag beim IQWiG wegen eines formalen Fehlers nicht verlängert. Ursprünglich hatte man Sawicki einen Dienstwagen mit Fahrer angeboten. Sawicki wollte aber keinen Fahrer und hatte zunächst seinen Privatwagen auch als Dienstfahrzeug genutzt. Zwei Jahre später wurde für ihn über das Institut ein Dienstwagen geleast, wie das überall üblich ist - aber auf den Fahrer hat Sawicki weiterhin verzichtet. Man hat Sawicki vorgeworfen, dass er sich diesen Wechsel nicht noch einmal offiziell vom Vorstand hat genehmigen lassen, obwohl ihm der Vorstand genau das von Anfang an angeboten hatte.
tagesschau.de: War das ein Vorwand, um Sawicki loszuwerden?
Sieber: Ja. Die Entscheidung, den Vertrag nicht zu verlängern, war vor allem politisch motiviert. So hatte sich das Bundeskanzleramt bereits im Vorfeld der vergangenen Bundestagswahl nach dem Arbeitsvertrag von Sawicki erkundigt und dem Bundesgesundheitsministerium unter Ulla Schmidt zu verstehen gegeben, dass es keine Verlängerung des Vertrags anstrebe. Diese Position ist aus meiner Sicht auch dem starken Einfluss der Industrie geschuldet. Das Ziel war, jemanden an die Spitze des IQWiG zu setzen, der weichere und weniger eindeutige Gutachten liefert. Mit Windelers Berufung ist das allerdings nicht geschehen und insofern hatte die Pharmaindustrie hier mit ihrem Lobbying keinen Erfolg.
tagesschau.de: Gibt es etwas, das Windeler anders machen könnte als sein Vorgänger?
Sieber: Auch wenn die beiden eine kritische Grundeinstellung teilen, sind Windeler und Sawicki ganz unterschiedliche Persönlichkeiten. Peter Sawicki ist jemand, dem es Spaß macht zu kommunizieren. Jürgen Windeler ist eher zurückhaltend. In Medienberichten hat er immer wieder betont, dass er diplomatischer sein werde als sein Vorgänger. Diplomatisch heißt aber auch, dass man sich in Streitfragen nicht genau festlegt. Da, wo man sich festlegen muss, nützt Diplomatie aus meiner Sicht nicht viel. Man darf gespannt sein, was Windeler mit seiner Diplomatie genau meint und was er damit erreichen möchte.
Das IQWiG prüft, welche Arzneimittel nützlich und welche überflüssig sind.
Ein wichtiger Punkt sind auch die unterschiedlichen Beziehungen der beiden zu den Krankenkassen. Sawicki ist auf Distanz zu den Kassen gegangen und hat großen Wert darauf gelegt, unabhängig von den Krankenkassen Entscheidungen zu treffen. Als ehemals leitender Arzt des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen muss Jürgen Windeler seine Unabhängigkeit in dieser Frage erst einmal unter Beweis stellen.
Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit Sitz in Köln wägt Nutzen und Kosten von Medikamenten ab und gibt Erstattungsempfehlungen für die Krankenkassen. Das Institut, das häufig vereinfacht auch "Medizin-TÜV" genannt wird, wurde 2004 als Folge des GKV-Modernisierungsgesetzes gegründet. Seit 1. September 2010 leitet der Mediziner Jürgen Windeler das Institut.
tagesschau.de: Wie äußerte sich die Pharmaindustrie zum neuen IQWiG-Chef?
Sieber: Öffentlich haben sich die Pharmafirmen bisher zurückgehalten. Inoffiziell gab es aber andere Vorschläge und andere Favoriten seitens der Industrie, die ich hier nicht nennen möchte. Zur Not, hieß es aber, könnte die Pharmaindustrie mit Herrn Windeler leben.
tagesschau.de: Die Bundesregierung will ab 2011 den Arzneimittelmarkt neu ordnen, wodurch die Pharmaindustrie künftig den Nutzen für neue Medikamente nachweisen und einen Erstattungspreis mit den Gesetzlichen Krankenversicherungen vereinbaren muss. Welche Rolle wird Windelers Institut dann noch spielen?
Sieber: Das hängt sehr stark von der genauen Ausgestaltung des Gesetzes ab. Momentan ist geplant, dass das IQWiG direkt nach der Markteinführung von Medikamenten eine Schnellbewertung durchführen soll. Dabei sollen sogenannte Dossiers bewertet werden, die der Hersteller selbst erstellt. Eine entscheidende Frage ist: Bekommt das Institut alle Daten und Informationen, um sich ein eigenes, wirklich unabhängiges Urteil bilden zu können? Wenn die Unabhängigkeit des Instituts unter dem neuen Gesetz nicht gewährleistet wird, würde das IQWiG entmachtet und zu einem zahnlosen Tiger verkommen. Dann wäre es auch egal, wer an der Spitze steht.
tagesschau.de: Wie versucht die Pharmaindustrie Institute wie das IQWiG in ihren Bewertungen zu manipulieren?
Sieber: Das IQWiG muss sich fast ausschließlich auf die Studien der Arzneimittelhersteller stützen, da es kaum unabhängige Arzneimittelforschung gibt. Die Firmen verwenden bei der Gestaltung ihrer Studien allerhand Tricks und vergleichen neue Medikamente oftmals mit schlechteren Medikamenten oder testen die Mittel vor allem an jüngeren und gesünderen Altersgruppen. Solange es keine unabhängige Forschung gibt, hat das IQWiG ein Problem mit der Bewertung dieser Arzneimittel. Wenn die Hersteller keine validen, wirklich aussagekräftigen Studien vorweisen können, ist es schwierig, einen Zusatznutzen des Arzneimittels festzustellen.
tagesschau.de: Was sagt die Pharmaindustrie dazu?
Die macht gegen dieses Verhalten natürlich mobil. Beim Analoginsulin war es so, dass die Industrie immer wieder betonte, dass es einen Zusatznutzen gäbe, den das IQWiG bloß nicht sähe. Mit solchen Argumenten hat die Industrie gegen viele Gutachten des IQWiG polemisiert. Der Grund für diese Argumentation ist in der Industrie wiederzufinden: Es gab beim Verband der forschenden Arzneimittelhersteller eine Art "Anti-Sawicki-Abteilung" mit dem Namen "GO." Dort wurde genau koordiniert, wie und mit welchen Argumenten die Nutzenbewertungen des IQWiG kritisiert werden. Das beschreibe ich in meinem Buch "gesunder Zweifel" sehr genau.
Das Interview führte Lazar Backovic für tagesschau.de