Interview zur Rolle der Medien im Fall Wulff "Skandalisierung ohne jedes Maß"
Angesichts des Freispruchs für Wulff kritisiert Hauptstadtjournalist Michael Götschenberg die Berichterstattung über die Affäre scharf. Es sei darum gegangen, die Person zu vernichten, so Götschenberg im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Freispruch für Christian Wulff - zu diesem Schluss kommen die Richter am Landgericht in Hannover. Rehabilitiert das Urteil den ehemaligen Bundespräsidenten auch in der öffentlichen Wahrnehmung?
Michael Götschenberg: Das muss man abwarten. Manches von dem Bild, das die Medien in Summe während der Wochen in der Affäre Wulff erzeugt haben, wird der Mann wohl nie wieder los. Er wurde damals als tricksender, betrügender Schnäppchenjäger in Schloss Bellevue inszeniert. Durch schlechtes Krisenmanagement trug er zweifellos seinen Teil dazu bei. Insgesamt aber müssen sich die Medien schon den Vorwurf gefallen lassen, auf dem Höhepunkt der Affäre eine Skandalisierung betrieben zu haben, die jedes Maß verloren hatte. Da ging es regelrecht darum, die Person zu vernichten.
Dennoch ist das Urteil für seine öffentliche Wahrnehmung natürlich wichtig: Mit dem Freispruch ist der Vorwurf aus der Welt, Wulff sei korrupt gewesen.
Seit 2010 ist Michael Götschenberg politischer Korrespondent in Berlin und leitet dort das gemeinsame Studio von RBB, MDR, RB und SR. Bundespräsident Wulff hat er auf zahlreichen Auslandsreisen begleitet. Die Geschichte des Rücktritts und die Rolle der Medien analysiert Götschenberg in seinem Buch "Der böse Wulff?".
"Die Affäre musste weiter laufen"
tagesschau.de: Beweist der Freispruch endgültig, dass einige Journalsiten sich völlig verrannt hatten?
Götschenberg: Der Freispruch sagt natürlich etwas über die Berichterstattung in den Wochen der Affäre Wulff aus. Schließlich ging es nicht nur darum, was juristisch relevant war. Es ging auch um Fragen von Moral und Stil. Da hat Wulff auch zweifellos Angriffsfläche geboten. In der Rückschau muss man aber auch sagen, dass sich die Vorwürfe, die seinerzeit gegen ihn erhoben wurden, fast ausnahmslos entweder als falsch, übertrieben oder belanglos herausgestellt haben.
Schließlich ging es nur noch darum, die Affäre am Laufen zu halten, die sich mehr und mehr zum Machtkampf entwickelte. Zum Machtkampf zwischen Schloss Bellevue und zumindest dem Teil der Medien, der über Sein oder Nicht-Sein dieser Präsidentschaft entscheiden wollte.
tagesschau.de: Urteilsverkündung und Prozess sind intensiv von den Medien verfolgt worden. Haben Sie im Verlauf der Berichterstattung eine Veränderung in Ton, Intensität und Haltung festgestellt?
Götschenberg: Durchaus. Für Wulff hat sich die Stimmung in den Medien seit einigen Wochen deutlich aufgehellt. Das gilt vor allem für die Berichterstattung über den Prozess an sich. Aber: Eine Debatte über die Rolle, die die Medien in den Wochen der eigentlichen Affäre Wulff gespielt haben, hat höchstens in Ansätzen stattgefunden. Ich habe auch meine Zweifel, dass es die noch geben wird.
"Massiver Druck auf die Staatsanwaltschaft"
tagesschau.de: Wie groß war der Anteil der Medien daran, dass es überhaupt zum Prozess gekommen ist?
Götschenberg: Der Druck auf die Justiz war von Seiten der Medien das letzte Mittel, um den Rücktritt doch noch herbeizuführen. Es gab damals massiven Druck auf die Staatsanwaltschaft Hannover, die das Verfahren schließlich eingeleitet hat. Danach hatte die Staatsanwaltschaft das Problem, liefern zu müssen. Immerhin war das Staatsoberhaupt zurückgetreten.
Ein Skandal für sich sind die zahlreichen Indiskretionen aus dem Ermittlungsverfahren, wo ständig Ermittlungsergebnisse an die Medien durchgestochen wurden – wobei nach wie vor nicht geklärt ist, von wem. Und schließlich: Nicht auszudenken, was los gewesen wäre, hätte das Gericht die Klage nicht zugelassen.
"Jagd nach neuen Schlagzeilen"
tagesschau.de: Glauben Sie, dass dieser Freispruch Wirkung zeigt? Dass eine zukünftige Berichterstattung womöglich zurückhaltender ausfällt?
Götschenberg: Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, dass die Tendenz zu Skandalisierungen weiter zunimmt. Die Medien stehen unter einem enormen Erfolgsdruck im Kampf um Quote und Auflage.
Noch wichtiger als den Verzicht auf Skandalisierung fände ich, dass nicht alle ständig voneinander abschreiben. In Windeseile werden aus Vermutungen Tatsachen, weil sich alle ständig aufeinander beziehen. Die Jagd nach immer neuen Schlagzeilen lässt sich nicht aufhalten. Allein die digitalen Formen des Journalismus sorgen dafür, dass nichts länger als drei bis vier Stunden Bestand hat.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de