Ein Polizist bei einer Razzia in Pulheim, Archivbild
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Crimine di Germania Geheime Mafia-Kommission in Deutschland

Stand: 27.06.2023 14:02 Uhr

Die kalabrische Mafia ist in Deutschland deutlich besser organisiert als bisher bekannt. Nach Recherchen von MDR und FAZ unterhält sie hierzulande das einzige Kontrollgremium Europas außerhalb von Italien.

Von Margherita Bettoni, Axel Hemmerling und Ludwig Kendzia, MDR

Es ist der 1. September 2009. Italienische Mafiafahnder der Carabinieri machen eine bahnbrechende Entdeckung. Ihnen gelingt es, ein geheimes Treffen zu filmen und abzuhören. Es findet an einem heiligen Ort im Aspromontegebirge in der süditalienischen Region Kalabrien statt: in Polsi, einem Marienwallfahrtsort mit einer großen Bedeutung für die Kalabrier.

Inmitten der alljährlichen Feiern zur Heiligen Madonna von Polsi trifft sich eine Gruppe von Männern. Bei Ihnen handelt es sich um Vertreter von 'Ndrangheta-Clans. An diesem Septembertag wählten sie offenbar Domenico Oppedisano zum sogenannten Capo Crimine. Unter seiner Führung werden wichtige strukturelle Entscheidungen gefällt. Er soll Frieden erhalten, Streit schlichten und dafür sorgen, dass die Regeln eingehalten werden. Im Italienischen wird dieses Gremium der Crimine di Polsi genannt. Fahnder gehen davon aus, dass es schon seit Jahren existiert. 

Kloster Polsi

Bei der Wallfahrtskirche von Polsi soll die 'Ndrangheta einen "Frieden" unter verfeindeten Clans erzwungen haben.

Friede nach Duisburg-Massaker

Nur zwei Jahre zuvor, im August 2007, starben in Duisburg sechs Männer im Kugelhagel. Es war das vorläufige Ende einer jahrelangen blutigen Fehde zwischen zwei mächtigen Clans der 'Ndrangheta aus dem kleinen kalabrischen Ort San Luca. Nur einen Monat danach beobachteten italienische Ermittler in San Luca, wie Menschen, die monatelang versteckt gelebt hatten, sich plötzlich wieder frei bewegten.

Sie hörten außerdem Gespräche ab, die darauf hindeuteten, das die 'Ndrangheta unter den beiden verfeindeten Clans einen "Frieden" erzwungen haben soll. Die abgehörten Gespräche legten aber vor allem nahe, dass dieser an einem besonderen Ort geschlossen wurde: Bei der Wallfahrtskirche von Polsi. Es kann davon ausgegangen werden, dass das oberste Führungsgremium, der Crimine di Polsi, für diesen Frieden gesorgt hat.

Geheime Mafia-Kommission in Deutschland

Mit der Expansion der 'Ndrangheta nach Norditalien und ins Ausland entstanden weitere solche Kontrollgremien, die dem Crimine di Polsi untergeordnet sind. Sie sind eine Art Kommissionen oder Instanzen, die für reibungslose Geschäfte sorgen sollen. Vor allem aber sollen sie Massaker wie Duisburg verhindern. Was bisher öffentlich nicht bekannt war: Auch in Deutschland gibt es eine solche geheime Kommission. Nach gemeinsamen Recherchen von MDR und "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) soll seit mehr als zehn Jahren eine Crimine di Germania existieren.

Laut vertraulichen Unterlagen soll diese nach den Mafiamorden von Duisburg gegründet worden sein. Der Sitz wird in Duisburg selbst vermutet. Neun Männer aus ganz Deutschland, alles mutmaßliche hochrangige 'Ndrangheta-Mitglieder, sollen in dieser geheimen Kommission sitzen.

Ihre Aufgabe: Sie sollen für geschäftlichen Frieden, einen Ausgleich von Interessen und die Einhaltung der Regeln sorgen. Ihre Aufgabe ist offenbar nicht das Einmischen in direkte kriminelle Operationen. Das Besondere an der Crimine di Germania ist, dass es außerhalb Italiens das einzige Führungsgremium dieser Art in Europa ist. Das Bundeskriminalamt bestätigte auf MDR/FAZ-Anfrage erstmals offiziell, dass die Existenz des Crimine di Germania bekannt sei.

Ein Polizist telefoniert am 15.08.2007 in Duisburg am Schild des Restaurants "Da Bruno" in der Nähe des Tatortes, wo am Morgen fünf Menschen erschossen und ein Mann schwer verletzt aufgefunden worden waren.

Blutige Massaker, wie hier zwischen zwei mächtigen Mafia-Clans 2007 in Duisburg, sollen durch die Crimine di Germania verhindert werden.

Deutschland für 'Ndrangheta bedeutend

Das wiederum ist eine brisante Information, denn eine solche Crimine kann nur mit dem Segen des obersten Kontrollgremiums, dem Crimine di Polsi, gegründet werden. Was wiederum bedeutet, dass es den Bossen in Kalabrien offenbar sehr wichtig ist, dass in Deutschland Friede und Gleichgewicht unter den 'Ndrangheta-Clans herrscht. Das dürfte einen wichtigen Grund haben: Deutschland ist für die milliardenschweren Geschäfte der kalabrischen Mafia zu wichtig, als dass man sich hier blutige Auseinandersetzungen liefern könnte.

Für den Frieden und den Ausgleich ist offenbar in erster Linie der Capo Crimine verantwortlich, der dem Gremium in Deutschland vorsteht. Deutsche und italienische Fahnder gehen davon aus, dass er von den wichtigsten Mitgliedern der 'Ndrangheta in Deutschland gewählt wird. Die Mitglieder der Kommission, von denen die meisten aus italienischen und deutschen Ermittlungsverfahren bekannt sind, kommen aus allen Teilen Deutschlands. Sie stammen aus Orten in ganz Kalabrien und repräsentieren damit die verschiedenen in Deutschland aktiven Clans der 'Ndrangheta.

Rund 20 'Ndrangheta-Gruppen in Deutschland

Am Tisch des angeblich einmal im Jahr tagenden Gremiums soll auch ein Vertreter der "Erfurter Gruppe" sitzen, einer 'Ndrangheta-Zelle, die in Thüringen und Sachsen seit 25 Jahren operiert. Zur "Erfurter Gruppe" und ihrem Umfeld sollen etwa 70 Personen gehören. Damit würde sie einen wichtigen strukturellen Maßstab in der Organisation erfüllen, denn sie darf als ein Locale angesehen werden.

In der Regel umfasst ein Locale mindestens 50 Personen. Sie sind wichtige Operationsbasen für die kriminellen Geschäfte der 'Ndrangheta in Italien und weltweit. Deutschlandweit sollen zwischen 18 und 20 solcher Locali existieren, schreibt die Bundesregierung 2019 als Antwort auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsabgeordneten Irene Mihalic. Nach MDR/FAZ-Recherchen soll es sie neben Thüringen auch in Bayern, Baden-Württemberg, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen geben.

BKA geht von 1000 'Ndrangheta-Mitgliedern aus

Die meisten angefragten Landeskriminalämter wollten sich zu diesen Informationen nicht äußern. Lediglich die Landeskriminalämter in Hessen und Thüringen bestätigten die Existenz von Locali in ihren Bundesländern. Das Bayrische Landeskriminalamt wiederum erklärte, dass es ein solches im Freistaat angeblich nicht gebe.

Das Bundeskriminalamt geht inzwischen intern von insgesamt 1000 'Ndrangheta-Mitgliedern in Deutschland aus. Doch die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Die 'Ndrangheta gilt als einer der größten Kokainimporteure weltweit. Sie soll einen geschätzten Jahresumsatz von 50 Milliarden Euro machen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 22. Februar 2021 um 05:36 Uhr.