Telefonbetrug Das perfide System der "falschen Polizisten"
Trickbetrüger haben 2022 in Deutschland Millionen erbeutet. Als falsche Polizisten bringen sie Seniorinnen und Senioren um ihr Erspartes. NDR-Recherchen geben exklusive Einblicke in dieses kriminelle System.
Izmir im Westen der Türkei. Die Stadt gilt laut deutschen Ermittlungsbehörden als ein Zentrum für Callcenter-Betrug. Von hier aus rufen täglich Trickbetrüger hundertfach Seniorinnen und Senioren in Deutschland an, mit dem Ziel sie auszunehmen. Sie geben sich am Telefon als Staatsanwälte aus, als Bankmitarbeiter, als Polizisten.
Einer dieser Betrüger, ein Mann Mitte 20, ist bereit Einblicke in das kriminelle System der Callcenter zu geben. Anonym, er nennt sich "Herr Jäger". "Jemanden nur mit der Stimme so weit zu bringen, dass er sein ganzes Erspartes einem anvertraut, das ist schon eine Leistung", sagt der Mann im schwarzen Kapuzenpullover auf einem Aussichtsturm für Touristen in Izmir.
"Herr Jäger" gibt Einblick in die Betrugsmasche, an der er selbst teilnimmt.
Schäden in Millionenhöhe
Jedes Jahr registrieren die Landeskriminalämter in Deutschland Zehntausende solcher Betrugsanrufe. In Bayern erbeuteten Trickbetrüger im vergangenen Jahr mehr als 18 Millionen Euro. In Niedersachsen 4,5 Millionen Euro, so viel wie noch nie. Und auch in weiteren Bundesländern sind die Schäden immens: 2,3 Millionen Euro in Berlin. 2,1 Millionen Euro in Hamburg. 1,2 Millionen Euro in Schleswig-Holstein. Die Liste lässt sich fortführen.
"Es ist mittlerweile Bestandteil unserer Polizeiarbeit, diese Fälle jeden Tag abarbeiten zu müssen. Das ist traurig genug", sagt Polizeihauptkommissar Haug Schalk aus Braunschweig. Wie an vielen Orten gibt es auch hier ein Kommissariat mit dem Schwerpunkt Straftaten gegen ältere Menschen. "Die Täter, von denen wir wissen, die Callcenter aufgebaut haben, hatten eigentlich immer eine kriminelle Karriere im Bundesgebiet", sagt Henning Wilker, Staatsanwalt in Osnabrück. Viele seien abgeschoben worden oder aus Angst vor Verhaftung oder Vollstreckung geflüchtet. Die Masche der falschen Polizisten ist Organisierte Kriminalität.
Hauk Schalk und Jörn Memenga von der Polizei Braunschweig ermitteln in den Fällen
Von Deutschland in die türkischen Callcenter
"Herr Jäger", der von Izmir aus Menschen betrügt, ist das sehr bewusst. "Wir machen Geld, wir machen Geld wie kein anderer", sagt er. Bei seinem "besten Abschluss" seien mit der Betrugsmasche 25.000 Euro allein "in seiner Tasche" gelandet. Erbeutet in nur fünf Stunden. Ob das stimmt, lässt sich nicht überprüfen. Er habe bei jeder Tat ein schlechtes Gewissen, betont er - auch das sei der Grund für das Interview mit dem NDR.
Der junge Mann ist in einer deutschen Stadt aufgewachsen, in einem sozialen Brennpunkt. Seit etwa drei Jahren sei er in der Türkei, erst in Istanbul, dann in Izmir. Ein Freund habe ihn angeworben, um in den Callcentern "zu arbeiten". Das Geld sei verlockend gewesen, sagt er. Geld, das er für Partys, Alkohol, Prostituierte ausgebe. Das Ersparte von deutschen Rentnern wird innerhalb kürzester Zeit verprasst.
Einblicke in die Strukturen
Wie die Betrugsmasche abläuft und wie potenzielle Opfer ausgespäht werden, auch das schildert "Herr Jäger" ausführlich. Die Callcenter seien gut organisiert. Die Betrüger würden in unterschiedlichen Rollen arbeiten: Mit sogenannten "Filterern", "Abschließern" und "Abholern". Der "Filterer" suche nach potenziellen Opfern. Mit einem Online-Telefonbuch würden deutsche Seniorinnen und Senioren identifiziert.
Gezielt suchten die Täter nach deutschen Vornamen, die ältere Menschen tragen, wie Roswitha, Manfred oder Mechthild. Über Online-Karten im Internet spähen die Täter die Nachbarschaft aus: Sie kennen Straßennamen, Geschäfte, Bushaltestellen in der Umgebung, auch die Adresse der nächsten Polizeistation - für die Betroffenen bekannte Informationen, glaubhaft am Telefon mitgeteilt, ausgenutzt für den Betrug. Selbst die Nummern, die im Telefon-Display erscheinen, sind nicht sofort als Betrugsanruf erkennbar. Über sogenanntes "Call ID Spoofing" werden dem Empfänger so deutsche Nummern angezeigt, obwohl die Täter aus dem Ausland anrufen.
Sei ein potenzielles Opfer entdeckt, werde es weitergereicht, an einen "Abschließer". "Der macht dann meist die Sache auch zu", sagt "Herr Jäger". Zumachen, das bedeutet: Die Betrüger bringen das Opfer dazu, Geld oder Wertgegenstände an einen Komplizen in Deutschland zu übergeben, den sogenannten "Abholer". Das Vorgehen und vieles weitere, was "Herr Jäger" erzählt, deckt sich mit Erkenntnissen von deutschen Ermittlern, wie solche Täter in der Regel vorgehen.
Austausch zwischen Deutschland und der Türkei
Deutsche und türkische Ermittlungsbehörden arbeiten zusammen, um den Trickbetrügern hinter der Masche habhaft zu werden. Immer wieder auch mit Erfolg. Im September 2022 wurden jüngst in der Türkei 67 Telefonbetrüger verurteilt, die Hauptangeklagten zu hunderten Jahren Haft. Und dennoch: Solche gemeinsamen Ermittlungen kosten Zeit, Geld und für deutsche Behörden gibt es dabei auch Grenzen
"Es ist sicherlich oftmals schwierig, sich jemanden ausliefern zu lassen", sagt die Braunschweiger Staatanwältin Julia Meyer. "Deswegen ist es für uns komfortabel, dass wir die Strafverfolgung an die Türkei abgeben können und dann auch sicher sein können, dass dort etwas passiert, dass dort ermittelt wird, dass es ein Gerichtsverfahren gibt und dass es im idealen Fall sogar dazu kommt, dass die Opfer einen Teil ihres Geldes zurückbekommen". Aber selbst, wenn die Täter gefasst und verurteilt werden, sei das noch keine Garantie für eine Entschädigung.