Schiffsunglück vor Griechenland Küstenwache wollte Boot offenbar loswerden
Anhand von neuen Dokumenten lassen sich die Stunden vor dem Untergang eines Flüchtlingsbootes vor Griechenland noch genauer rekonstruieren. Recherchen des NDR mit internationalen Partnern erhärten den Verdacht, dass die Küstenwache eine Mitschuld hatte.
Als Issra Oun sich endgültig verabschiedet, bleibt ihre Mutter weinend zurück. Handyvideos zeigen die 22-Jährige beim Abschied von Familie und Freunden. Seit zwölf Jahren lebt die Frau in einem Camp für syrische Kriegsflüchtlinge in Jordanien.
Doch sie will zu ihrem Mann, der in Hamburg lebt und dort bei der Deutschen Post arbeitet. Issra hatte einen Deutschtest gemacht, um den Familiennachzug beantragen zu können. Ohne Erfolg. Seit sie zehn Jahre alt ist, hat sie keine Schule mehr besucht.
"Pass auf dich auf!"
Die wohl letzten Fotos von ihr sind vom 9. Juni. Sie zeigen sie mit ihrem Bruder und einer Freundin im Abendlicht am Wasser, in der libyschen Hafenstadt Tobruk. Dort legt das Schiff ab. Noch während sie auf dem Boot sitzt, schreibt ihr Mann ein letztes Mal vor der Abfahrt: "Pass auf dich auf!" Er hatte sie bis zuletzt davon abbringen wollen, den Weg über das Mittelmeer zu wählen.
Issra Oun sitzt nun zusammen mit mehr als 700 anderen Menschen auf einem alten Fischkutter. Wer oben an Deck ist, muss mehrere Tausend Euro an die Schleuser zahlen, für einen Platz unter Deck ist es weniger. "Der Kahn war bereits in Seenot, als er in See stach", sagt der Hamburger Professor für Schiffssicherheit Stefan Krüger.
Italien angesteuert?
Und das völlig überladene Schiff steuert laut Zeugenaussagen das rund 1000 Kilometer entfernte Italien an, nicht ins nähere Griechenland. Bilder von brutalen Pushbacks der Griechen haben unter vielen Flüchtlingen die Runde gemacht.
Vier Tage später wird das Schiff untergehen, obwohl es seit Stunden auf dem Radar der Grenzbehörde Frontex und der griechischen Küstenwache ist. In den letzten Stunden ist sogar ein Boot der griechischen Küstenwache beim Schiff der Geflüchteten.
Seitdem steht die Frage im Raum: Hätten die Menschen gerettet werden können? Wie kam es zum Kentern? Das Rechercheformat STRG_F (NDR/funk) hat gemeinsam mit dem britischen "Guardian", der griechischen Journalismus-NGO Solomon und der Rechercheagentur Forensis mit insgesamt 26 Überlebenden des Unglücks gesprochen.
Zudem hatten die Journalisten Einblick in Gerichtsakten und das Logbuch des griechischen Rettungsschiffes, das den Fischkutter in den letzten Stunden begleitet hatte. Das Unglück lässt sich so genauer als bislang rekonstruieren.
Der Weg des Fischerbootes
Demnach erreicht das Rettungsschiff 920 der griechischen Küstenwache am 13.6 um 22:40 Uhr griechischer Zeit das Fischerboot. Gerade haben die Flüchtenden Wasser, Essen und Diesel von einem vorbeifahrenden Tanker bekommen. Das Boot der Küstenwache nähert sich bis auf 200 Meter.
Laut Logbuch soll nun erstmals ein Seil an dem Fischkutter angebracht worden sein. Der Grund ist unklar. Im Logbuch heißt es: "Nach dem Anbinden an der Bugseite des Fischerbootes wurden Stimmen auf Arabisch gehört: "NO HELP NO HELP - GO ITALY". Die Flüchtenden hätten das Seil wieder losgemacht.
Bislang war kaum bekannt, wie sich das Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer bewegt hatte. Um nicht entdeckt zu werden, sendete es keine Daten zur Schiffsidentifikation. Doch im Logbuch des Bootes der griechischen Küstenwache sind Koordinaten des Bootes/Fischkutters notiert.
Analysten der Recherche-Agentur Forensis haben die Daten visualisiert. Es wird deutlich: Nachdem das Boot zuvor lange umherirrte, weil offenbar der Kompass ausgefallen war, ändert es nach dem Eintreffen der Küstenwache plötzlich seinen Kurs.
Es fährt jetzt westwärts, mit gleichmäßiger Geschwindigkeit, offenbar in Richtung Italien. Aussagen von mehreren Überlebenden legen nahe, die griechische Küstenwache hätte sie in diese Richtung geleitet und ihnen versichert, dass in italienischem Gewässer ein Boot der italienischen Küstenwache warte.
Anfragen bleiben unbeantwortet
Wussten italienische Behörden davon? Auf Anfrage verweist die italienische Küstenwache auf ein Statement, wonach sie wiederum die griechischen Behörden zuständig sah, weil das Schiff in griechischen Gewässern war.
Auch Frontex äußert sich nicht detailliert, sondern verweist lediglich auf ein Statement. Ein Frontex-Flugzeug hatte das Schiff der Geflüchteten bereits am Morgen vor dem Unglück entdeckt. Frontex hatte dann offenbar an diesem Tag noch drei weitere Male Hilfe aus der Luft angeboten. Alle Anfragen ließ die griechische Küstenwache unbeantwortet.
Um 1.40 Uhr am Morgen des 14. Juni stoppte das Fischerboot schließlich. Laut übereinstimmenden Aussagen von Küstenwache und Überlebenden sei der Motor nicht mehr funktionstüchtig gewesen. NDR, "Guardian" und Forensis haben insgesamt mit 26 Zeugen gesprochen.
Das Flüchtlingsboot startete in der libyschen Hafenstadt Tobruk. Nach dem Unglück wurden die Leichen der Todesopfer und die Überlebenden in die griechische Hafenstadt Kalamata gebracht.
Alle berichten, dass sie entweder das Seil gesehen oder eine starke Zug-Bewegung bemerkt haben, also dass jetzt erneut ein Seil am Bug des Fischerbootes befestigt wurde. Etliche der Überlebenden erinnern sich, dass dafür maskierte Männer vom Boot der Küstenwache herüber gekommen seien, um das Seil anzubinden.
Im Logbuch des Kapitäns der griechischen Küstenwache findet sich auch dazu eine aufschlussreiche Notiz. Kurz nach dem Auslaufen in Kreta schreibt er: "Auslaufen mit einem vierköpfigen Team von KEA/Chania". STRG_F hat zusammen mit dem "Guardian" erstmals die beteiligte Crew identifiziert.
KEA ist eine Spezialeinheit, die für riskante Operationen auf hoher See ausgebildet wurde. Das Team hätte eine Aktion wie das Betreten und Anbinden eines anderen Bootes ausführen können.
Gab es ein zweites Seil?
Die Küstenwache räumt ein, dass mindestens einmal ein Seil befestigt wurde: "Es war ein Seil, damit sie stabilisiert werden, um näher zu kommen und zu sehen, ob sie irgendwelche Hilfe benötigen", so ein Regierungssprecher.
Zum Vorwurf, es habe ein zweites Seil gegeben, dessen Einsatz später zum Untergang geführt habe, sagen griechische Behörden bislang nichts. Auch im Logbuch wird ein zweites Seil nicht erwähnt. Weil es eine riskante Aktion war? Das zumindest legt die Einschätzung des Experten für Schiffssicherheit Stefan Krüger nahe.
Abschleppversuch könnte Untergang auslösen
Nach seiner Einschätzung könne ein Tau und der damit einhergehende Zug ein sogenanntes krängendes Moment auslösen, also ein Moment, in dem sich ein Schiff kritisch zur Seite neigt: "So ein krängendes Moment, was man ja durch so ein Tau auf jeden Fall anbringt, führt nicht dazu, dass das Schiff stabilisiert wird", so Krüger, er glaube eher, "dass die Motivation gewesen ist, das Schiff abzuschleppen, weil der Motor nicht mehr funktioniert hat".
Auch die Koordinaten, die im Logbuch zu lesen sind, könnten nahelegen, dass ein Abschleppversuch zum Untergang führte. Um 1.40 Uhr, also nachdem der Motor ausfiel, änderte das Schiff erneut den Kurs. Wenige Hundert Meter Richtung Osten. Eine Bewegung, die nicht mit Wind oder Strömung zu erklären ist.
Viele offene Fragen
20 Minuten später geht der Fischkutter mit mehr als 700 Menschen an Bord unter. Mehrere Augenzeugen erklärten gegenüber STRG_F auf die Frage, wohin man sie denn ziehen wollte: "Zur italienischen Küstenwache, sie meinten, dass die italienische Küstenwache auf uns wartet."
Ob das tatsächlich gesagt wurde, ob es nur ein Vorwand war oder zutreffend, welches Ziel die Crew mit dem Anbringen eines Seils tatsächlich verfolgte - all das bleibt bislang unklar und ist derzeit Gegenstand von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in Griechenland. Anfragen dazu ließ die griechische Küstenwache und das zuständige Ministerium unbeantwortet.