Rekord-Drogenfund Wie der 35-Tonnen-Kokain-Deal aufflog
Mitte Juni melden Drogenfahnder einen außergewöhnlichen Fund: 35,5 Tonnen Kokain im Wert von 2,6 Milliarden Euro. SWR-Recherchen zeigen, welche Rolle Tippgeber für den Ermittlungserfolg beim bisher größten Kokainfund in Deutschland spielten.
Es ist der bislang größte bekannt gewordene Drogenfund in Deutschland: Mitte Juni melden Fahnder von Zoll und Kriminalpolizei 35,5 Tonnen Kokain im Wert von 2,6 Milliarden Euro sichergestellt und unter massivem Polizeischutz bereits vernichtet zu haben. Abgefangen wurden die Drogen bereits im vergangenen Jahr.
Ende Mai, Anfang Juni dieses Jahres: Ermittler vom Zoll und Landeskriminalamt Baden-Württemberg durchsuchen Räumlichkeiten in sieben Bundesländern und verhaften sieben Tatverdächtige: Ein Lkw-Fahrer, ein Hafenlogistiker, ein Hamburger Spediteur sind dabei und ein völlig unauffälliger deutscher Geschäftsmann aus Nordrhein-Westfalen.
"Der Beschuldigte soll zahlreiche Scheinfirmen zum Zweck des Imports von Kokain gegründet haben", sagt Julius Sterzel von der ermittelnden Staatsanwaltschaft in Düsseldorf. Jetzt sitzt der 43-jährige Familienvater Simon F. in Untersuchungshaft.
Der gebürtige Leipziger hatte seine Berufskarriere mit einer Ausbildung bei der Industrie- und Handelskammer seiner Heimatstadt begonnen. Bei verschiedenen Firmen im Westen Deutschlands lernte er die Feinheiten eines sehr speziellen Marktes kennen: Dem Handel mit Vorratsunternehmen. Er gründete Firmen ohne Namen und Geschäftszweck und verkaufte diese leeren Hüllen an Gründer, die sich die Behördengänge ersparen wollten, um schnell wirtschaftlich handlungsfähig zu werden.
Deshalb steht sein Name viele Hunderte Male im Handelsregister. Sollte diese Fülle an Einträgen eine perfekte Tarnung für illegale Geschäfte abgeben? Im Frühjahr 2023 begann Simon F., neben seinem regulären Angestelltenverhältnis, auch auf eigene Rechnung Firmen zu gründen - nun aber schon mit teils blumigen Namen versehen und Geschäftszwecken wie dem "Im- und Export sowie Groß- und Einzelhandel mit Waren in den Bereichen Textilien, Lebensmittel und Baumaterialien".
Fußball und Lkws
Aus Ermittlungsunterlagen, die dem SWR vorliegen, geht hervor, dass der Geschäftsmann zu diesem Zeitpunkt bereits Kontakt zu einem weiteren Tatverdächtigen hatte: Ümit D. aus dem Raum Köln. In Deutschland geboren, wuchs er in einer türkischstämmigen Familie auf, die im Ort bekannt ist: Bilder zeigen ihn beim örtlichen Fußballverein, ein Freund berichtet von regelmäßigen Moscheebesuchen. Sein Facebookprofil deutet auf Berufliches hin: Überseecontainer sind zu sehen und Fotos von Lkws der Speditionsfirma, die seine Familie 2017 gründete.
Doch auch dieses Bild von Ümit D. hat anscheinend eine Kehrseite: Ein langjähriger Bekannter, der anonym bleiben will, berichtet dem SWR von schnellen Autos und Prostituierten, mit denen Ümit D. Umgang gehabt haben soll. Die Polizei habe einen Lamborghini, einen Ferrari und weitere teure Wagen bei ihm beschlagnahmt. "Der hat nicht Fußball gespielt - der hat erpresst!", sagt der Mann über Ümit D. Jetzt sitzt der 39-Jährige in U-Haft und die Firma hat Insolvenz angemeldet.
Auch bei der Firma des dritten mutmaßlichen Haupttäters, Mustafa E. aus Hamburg, geht seit Tagen niemand mehr ans Telefon. Ein Insolvenzantrag findet sich im amtlichen Verzeichnis aber noch nicht. Vielleicht, weil auch dieser Tatverdächtige derzeit in U-Haft sitzt. Mustafa E. soll laut den Ermittlungsunterlagen die Container mit Waren aus Südamerika aus dem Hamburger Hafen geholt und die Ware gelöscht haben.
Drogenspürhund findet Kokain
Die Arbeitsteilung der drei war laut Ermittlungen aufgebaut, als ginge es nur um legale Geschäfte: Simon F. gründete Unternehmen, die nach Importfirmen für Lebensmittel und Baumaterialien aussahen. Ümit D. erstellte Webauftritte für diese Firmen und bestellte Waren in Südamerika. Und Mustafa E. holte die Container aus dem Hafen. Um den Kokainschmuggel zu tarnen, sollen über jede dieser Firmen erst etliche Container mit legaler Ware und ohne Kokain bestellt worden sein.
Im Fall der Firma B. S. (Name ist der Redaktion bekannt) beispielsweise verzeichnet ein Handelsportal elf Lieferungen aus Ecuador. Eine davon enthielt Kokain, das ein Drogenspürhund im Hafen von Guayaquil an der Küste Ecuadors erschnüffelte. Auf X veröffentlichte die Nationale Polizei Ecuadors ein Video davon. Denn auch für sie war es ein größerer Fund: Knapp drei Tonnen Kokain waren in Säcken mit Bananenmehl versteckt. Das war Anfang Mai 2023. Die Ermittlungsunterlagen, die dem SWR vorliegen, zeigen, dass in den Monaten zuvor rund 140.000. Euro von einem Unternehmen in der Türkei auf die Konten der drei Tatverdächtigen in Deutschland geflossen sein sollen. Mustafa E. habe davon rund 8.000 Euro an eine große Reederei weitergeleitet.
Womöglich, um den dann geplatzten Transport des Bananenmehls zu bezahlen. Die ecuadorianische Polizei eröffnete ein Ermittlungsverfahren und benachrichtigte sofort das Bundes- und das Zollkriminalamt. Unklar bleibt, ob deutsche Ermittler dieser Spur nachgingen, die über die Firma B.S. unmittelbar zu Simon F. und seinem Netzwerk von Scheinfirmen geführt hätte. Die Täter jedenfalls ließen sich nach der Beschlagnahmung in Guayaquil nicht beirren und schickten laut Ermittlern im Sommer 2023 alle paar Wochen weitere Container mit großen Mengen Kokains auf die Reise.
Anonyme und amtliche Tipps
Auch ein weiterer sehr konkreter Tipp geht bei den Ermittlern ein: Am Mittag des 8. Juni 2023 ruft ein Mann beim Hamburger Zoll an und gibt das Kennzeichen eines Containers durch. Darin sei eine große Menge Kokain. Der Container sei an die Speditionsfirma von Ümit D. adressiert. Doch der Tipp kommt zu spät, der Container hat den Hafen bereits verlassen. Womöglich enthielt er die einzige Kokainlieferung, die tatsächlich das mutmaßliche Tätertrio erreichte.
Wirklich ausschlaggebend für den späteren Ermittlungserfolg war schließlich ein "Risikoprofil" der kolumbianischen Antidrogenbehörde Diran, wie die Generalzolldirektion dem SWR per Mail bestätigte: "Hintergrund ist eine in Kolumbien auffällige Ausfuhrabfertigung von zwei Containern Kernseife mit Endbestimmungsort Hamburg gewesen." Kernseife von Kolumbien nach Deutschland zu importieren, erschien den kolumbianischen Ermittlern so widersinnig, dass sie den deutschen Zollverbindungsbeamten informierten - obwohl sie in den beiden auffälligen Container kein Kokain fanden. Der Empfänger der Kernseife sollte eine Firma in Mannheim sein. Diese aber gab es aber nur auf dem Papier. Und sie gehörte Simon F.
Spurensuche in der Türkei
Trotz der Beschlagnahme in Ecuador kommen im Sommer 2023 weitere Kokainlieferungen nach Europa. Acht Tonnen werden in Rotterdam sichergestellt, zwölf Tonnen in Hamburg. Diese Lieferung hatten die Fahnder laut Ermittlungsunterlagen erwartet, denn jetzt haben sie das Netzwerk auf dem Schirm. Insgesamt fangen sie neun Container mit Kokain ab. Mit den Festnahmen in Deutschland sei eine erste Phase der Operation abgeschlossen, meint der Sprecher der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft, Julius Sterzel im SWR-Interview. "Wir stehen mit diversen Strafverfolgungsbehörden im Ausland insbesondere mit Lateinamerika im Austausch." Und: "Im Rahmen der Ermittlungen haben sich Erkenntnisse ergeben, dass mutmaßliche Hintermänner aus der Türkei heraus agieren könnten."
Als Zoll und Polizei Anfang Juni gegen die drei Hauptverdächtigen und einige Helfershelfer vorgehen, müssen sie nach Ümit D. nicht lange suchen: Er sitzt zu diesem Zeitpunkt bereits in U-Haft. Er soll sich mit vorgehaltener Pistole einen BMW und eine Rolex besorgt haben und steht deshalb demnächst wegen schwerer räuberischer Erpressung vor Gericht.