Eine Schwangere hält ihren Bauch.
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"Freebirthing" Warum Frauen eine Alleingeburt riskieren

Stand: 05.11.2024 06:02 Uhr

Eine Geburt ohne Hebamme oder Ärzte, ganz allein zu Hause: Berichte von sogenannten Alleingeburten werden auf Social Media tausendfach geteilt. Vollbild-Recherchen zeigen deren Risiken - und das Potenzial des Themas für Rechtsextremisten.

Von Lisa Genzken und Sarah Lehnert, SWR

Eine Geburt ohne Hebamme oder Arzt - in der Scheune, im Meer oder im Wohnzimmer: Reichweitenstarke "Alleingeburten"-Influencerinnen teilen in den Sozialen Medien Videos und Berichte von angeblich komplikationsfreien, schönen Geburten. Sie hegen den Wunsch nach maximaler Selbstbestimmung und kehren dabei dem Gesundheitssystem und der Wissenschaft den Rücken.

In Deutschland kommen etwa 98 Prozent aller Kinder im Krankenhaus zur Welt. Für die meisten Mütter wäre es unvorstellbar, das eigene Baby ohne medizinische Unterstützung zu gebären. Und doch gibt es eine Community von Müttern, die sich im Internet organisieren und sogenanntes "Freebirthing" propagieren - angeblich freie, natürliche Geburten.

"Alleingeburt" in den Wellen des Pazifiks

Ein Video, in dem eine Frau ihr Kind an einem einsamen Strand von Nicaragua 2022 zur Welt brachte, ging viral. Es wurde hunderttausende Male abgerufen, internationale Medien griffen es auf. Die Mutter, eine 38-jährige Deutsche namens Josy Peukert, ist Verfechterin von Geburten ohne Arzt oder Hebamme und wirbt dafür als "Alleingeburten"-Influencerin auf Instagram. Dort postete sie auch das Video der Geburt ihres Sohnes in den Fluten des Pazifiks. Sie verkauft auch Online-Kurse für "Alleingeburten"-Interessierte.

Im Interview mit dem SWR-Investigativformat Vollbild erzählt sie, sie habe sich monatelang vorbereitet, den Wasserstand beobachtet und habe sich im Wasser sicher gefühlt - anders als in einer Klinik. Sie kritisiert das "System Krankenhaus": "Warum passieren die ganzen Notfälle im Krankenhaus? Durch Sabotage, Manipulation, Interventionkaskade", sagt Peukert. Andere Frauen aus der Szene gehen mit ihrer Kritik sogar noch weiter. Sie vergleichen etwa vaginale Untersuchungen mit Vergewaltigungen oder bezeichnen den Dammschnitt als "westliche Genitalverstümmelung".

Ärzte und Hebammen raten ab

Lars Hellmeyer, Chefarzt der Geburtsstation am Vivantes Klinikum in Berlin, rät dringend von Entbindungen ohne medizinische Hilfe ab: "Eine Alleingeburt sollte auf keinen Fall in irgendeiner Hinsicht propagiert werden. Das halte ich wirklich für absolut falsch und gefährlich." Er erlebe täglich, dass Notkaiserschnitte durchgeführt werden müssten, um Mutter und Kind zu retten.

Lars Hellmeyer

Chefarzt Lars Hellmeyer warnt vor "Alleingeburten".

Auch der Hebammenverband und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe warnen vor Alleingeburten. "Es gibt so viele Situationen, die gefährlich sind in der Geburtshilfe, wo man unbedingt mindestens eine Hebamme, wenn nicht ärztliches Fachpersonal braucht", so Hellmeyer. Es könne immer zu Komplikationen kommen. Wenn sich etwa die Plazenta nicht gut ablöse, könne die Frau verbluten.

Berichte über Notfälle mit Todesfolge

Eine der bekanntesten Alleingeburts-Verfechterinnen in Deutschland ist Sarah Schmid. Sie ist Ärztin, Autorin und Mutter von zehn Kindern. Auf Social Media schauen Zehntausende Menschen ihre Videos, in denen sie von ihren Alleingeburten berichtet. In der SWR-Talkshow Nachtcafé betonte sie 2019, dass die Geburt etwas Natürliches und Ungefährliches sei: Es sei "so eingerichtet, dass der Körper der Frau gut gebären kann, sicher gebären kann".

Außerdem sagt sie: "Man braucht aber nicht, dass irgendjemand da dran zieht oder mit der Uhr danebensteht oder irgendwie eingreift." Medizinische Versorgung nach der Geburt brauche sie nicht, sagte Schmid: "Was will man da versorgen? Ich bin danach duschen gegangen."

Obwohl Geburtsmediziner vor Alleingeburten warnen, propagiert Schmid genau das Gegenteil. Dass es bei Alleingeburten zu Notfallsituationen kommt, in denen das Eingreifen von Ärzten nötig wäre, weiß sie. In von ihr betriebenen geschlossenen Telegram-Gruppen, zu denen sich Vollbild undercover Zutritt verschaffte und mitlesen konnte, tauschen sich Eltern über ihre Erfahrungen aus - auch über Notfälle mit Todesfolge.

Teilweise konnten die Vollbild-Reporterinnen dramatische Szenen nachvollziehen: So teilte etwa ein Vater während einer komplizierten Alleingeburt minutiöse Updates in der Telegram-Gruppe und bat die Gruppe um Rat. Nach einiger Zeit sendet er eine Sprachnachricht: "Baby ist seit vier Minuten da, es atmet zwar noch nicht, aber wir bleiben ruhig". Sarah Schmid gab daraufhin Hinweise zur Reanimation und fordert den Vater auf, den Rettungswagen zu rufen. Aber das Kind überlebte nicht.

Die Mutter eines anderen Kindes schrieb: "Das Baby lag unentdeckt in Beckenendlage und am Schluss, als der Körper geboren war, haben die Wehen aufgehört. Da hätten wir professionelle Hilfe gebraucht. Baby ist an Sauerstoffmangel gestorben."

Befürworter wollen Schulpflicht unterlaufen

Ende August veranstaltete Sarah Schmid auf ihrem Grundstück im französischen Elsass, wo sie mit ihrem Mann und den Kindern lebt, ein Treffen für Eltern aus der Alleingeburten-Szene. Ein Vollbild-Team gab sich als verlobtes Paar mit Kinderwunsch und Interesse an einer "Alleingeburt" aus. So gelang es den Reportern, sich undercover einzuschleusen und die Veranstaltung zu dokumentieren.

Vor Ort wurde schnell klar, dass es den versammelten Eltern um mehr ging als um eine selbstbestimmte Geburt. Ein großes Thema war das "Freilernen". Eltern aus der "Freilerner"-Bewegung lassen ihre Kinder außerhalb des staatlichen Schulsystems lernen. Das verstößt gegen die Schulpflicht. Schmid erzählte, dass sie ihre Kinder nicht in die Schule schicke: "Solange man nicht von irgendjemandem gemeldet wird, ist es hier easy."

Sie sei unter anderem deswegen ins Ausland gegangen, um ihre Kinder dem staatlichen Schulsystem zu entziehen. Dabei gilt in Frankreich wie auch in Deutschland Schulpflicht. Daneben diskutieren mehrere Teilnehmer über Impfungen für Kinder. In Deutschland ist die Masernimpfung Pflicht, in Frankreich sind elf Impfungen für Kinder Pflicht. Dennoch erklärte Schmid stolz, dass alle ihre Kinder ungeimpft seien.

Eine Teilnehmerin berichtete, dass sie die Impfpässe ihrer Kinder gefälscht habe, und bot der Vollbild-Reporterin im Nachhinein sogar ihre Unterstützung bei der Fälschung von Impfpässen an. Impfpassfälschung ist Urkundenfälschung und eine Straftat.

Verbindungen zur Anastasia-Bewegung

Eine weitere Teilnehmerin warb auf Schmids Treffen für ihre "Freilerner"-WG. Dabei nannte sie mehrmals Begriffe, die aus der völkischen Anastasia-Bewegung stammen. So warb sie dort immer wieder für das Bildungskonzept "Schetenin", eine Pädagogik, die aus dem Umkreis der Anastasia-Bewegung hervorging. Anastasia-Gruppierungen vertreten eine rassistische und antisemitische Ideologie und werden vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft.

Ein Blick in Schmids Telegram-Kanäle gibt Hinweise auf ihre Gedankenwelt. Die Rechtsextremismusexpertin Lea Lochau von der Amadeu-Antonio-Stiftung ordnet die Posts für Vollbild ein. Sie identifiziert einige von Schmids Posts als antisemitisch, etwa Karikaturen, in denen die Situation ungeimpfter Personen mit der von Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus verglichen wird.

Schmid teile auch queerfeindliche Narrative und zahlreiche Verschwörungstheorien, unter anderem die von der sogenannten Umvolkung. Dieses Narrativ besagt, dass die Bevölkerung in Europa durch Zuwanderer aus Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten ersetzt werde.

Das Thema Geburt biete Potenzial für Rechtsextremisten, sagt Lea Lochau: "Das sind einfach Themen, die sind diskursfähig, die sind anschlussfähig. Da können sozusagen über diese weiche Ebene von Mutterschaft, Schwangerschaft, andere ideologische Bausteine sehr einfach mitgegeben werden".

Vollbild konfrontierte Sarah Schmid mit den Recherchen. Auf einen umfangreichen Fragenkatalog, etwa ob sie Rechtsextremisten bei ihren Treffen dulde und ob ihr die Gefahren von "Alleingeburten" bekannt sind, ging Schmid nicht ein. In ihrer Antwort schreibt sie von einem "moralischen und qualitativen Niedergang" des öffentlich-rechtlichen Journalismus. "Darüber hinaus dürfen Sie mich meinetwegen in Ihre imaginierte rechte Ecke stellen."

"Alleingeburten" in Deutschland grundsätzlich erlaubt

"Alleingeburten" sind in Deutschland erlaubt. Nimmt das Kind bei einer "Alleingeburt" jedoch Schaden, kann sich die Mutter strafbar gemacht haben. Laut Bundesgerichtshof muss sich die Mutter Hilfe bei der Geburt holen, wenn es für die Schwangere absehbar ist, dass bei der Geburt Gefahren für Leib oder Leben des Kindes entstehen können, etwa wegen Vorerkrankungen oder sonstige Risiken.

In Österreich sind hingegen aufgrund der Gefahren für Mutter und Kind "Alleingeburten" grundsätzlich verboten. Das Bundesgesundheitsministerium beantwortete konkrete Fragen zu Risiken von "Alleingeburten" und ob Gesetzesänderungen geplant sind, nicht.