Politologin analysiert Landtagswahlen Paradoxe Wahl mit Schock-Faktor
Die ersten Landtagswahlen 2016 wirbeln die deutsche Parteienlandschaft ordentlich durcheinander. Die starken Ergebnisse der AfD seien für die etablierten Parteien ein Schock, sagt Politologin Simone Abendschön im Interview mit tagesschau.de - womöglich ein heilsamer.
tagesschau.de: Die AfD ist zweifellos die Partei, die an diesem Wahlsonntag den größten Erfolg verbuchen kann. Wie hat sie es geschafft, so viele Menschen zu mobilisieren?
Simone Abendschön: Die AfD hat insbesondere auch bei den Nichtwählern punkten können, weil sie es geschafft hat, "Politikverdrossene" und von den etablierten Parteien Enttäuschte für sich zu gewinnen und sich dieses Image offensichtlich auch erfolgreich im Wahlkampf gegeben hat. Sie spricht offenbar die Sprache vieler Menschen, die sich von den etablierten Parteien verlassen fühlen, wie aus der teilweise überwältigenden Zustimmung für sie in sozialen Netzwerken und "auf der Straße" hervorgeht.
Dabei spielte das Thema Flüchtlingspolitik die entscheidende Rolle und hat in allen drei Bundesländern die Wahlkämpfe beherrscht. Konkrete, realpolitisch vernünftige Vorschläge zur Flüchtlingspolitik hat die AfD allerdings meines Erachtens nicht geliefert. Von daher war und ist ihre Wahl vor allem ein Zeichen des Protestes, ein "Denkzettel" für die übrigen Parteien. Ihre Wähler sind nicht damit einverstanden, wie die etablierte Politik auf die "Flüchtlingskrise" reagiert.
Simone Abendschön ist Professorin für Politikwissenschaft in Gießen. Zu ihren Schwerpunkten gehören Demokratieforschung, politische Sozialisationsforschung und vergleichende Einstellungsforschung. Immer wieder beschäftigt sich Abendschön mit dem Politikverständnis von Kindern und Jugendlichen.
tagesschau.de: Was müssen die anderen Parteien daraus lernen?
Abendschön: Das AfD-Ergebnis ist für die etablierten Parteien sicherlich ein Schock. Deren Strategie zu übernehmen, kann aber das Problem nicht lösen, denn die AfD macht es sich ziemlich einfach. Verantwortungsvolle Politik kann in Deutschland nicht bedeuten, jetzt auf einmal Grenzen dicht zu machen. Um die Frage nach dem Umgang mit Flüchtlingen zu beantworten, braucht es politisch einen langen Atem, auch meiner Meinung nach auf europäischer Ebene. Das macht Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit deutlich, und sie ist ja in den vergangenen Wochen vor den Wahlen mit zahlreichen Interviews in die Offensive gegangen.
"Interner Streit kommt nicht gut an"
tagesschau.de: Warum hat diese Offensive nur wenig gefruchtet, denn die CDU hat ja bei allen drei Wahlen Stimmen eingebüßt?
Abendschön: Zum einen kam sie zu spät und war nicht pointiert genug. Zum anderen handelt es sich bei der Flüchtlingsfrage auch um ein komplexes politisches Problem. Geholfen hat sicherlich auch nicht, dass die CDU mit dem Koalitionspartner SPD, aber eben auch vor allem intern über den richtigen Weg in der Flüchtlingspolitik massiv gestritten hat. Julia Klöckner und Guido Wolf als die Spitzenkandidaten der CDU in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg haben für ihren halbherzigen Versuch einer Kurskorrektur mit historisch niedrigen Ergebnissen bezahlen müssen. Das scheinbar Paradoxe ist ja: Auch parteiinterner Streit kommt bei den Wählern nicht gut an.
tagesschau.de: Selbst wenn die bisherigen Ministerpräsidenten im Amt bleiben würden, kann keine der Regierungskoalitionen so wie bisher fortgeführt werden. Welche Rolle haben die Amtsboni gespielt?
Abendschön: Der Kandidatenfaktor war ganz entscheidend und hat in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg den jeweiligen Parteien zum Wahlsieg verholfen. Das ging aber deutlich auf Kosten der entsprechenden Koalitionspartner, unter anderem mit der Folge, dass die Regierungsbildungen jetzt nicht einfacher werden. Das gilt insbesondere auch für Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg, wo es durch die starke AfD nicht einmal für eine Große Koalition reicht.
tagesschau.de: Was bedeutet das für zukünftige Koalitionen auf Bundesebene?
Abendschön: Inwieweit man sich nach der nächsten Bundestagswahl auf schwierige Verhältnisse einstellen muss, hängt davon ab, ob die AfD ihre momentane Anhängerschaft halten kann. Wir haben bei rechten und rechtsextremen Parteien schon öfter beobachtet, dass sie nach einem großen Erfolg die Legislaturperiode nicht überleben. So konnte 1998 die DVU in Sachsen-Anhalt ein hohes Ergebnis einfahren und verschwand dann aber auch recht schnell wieder. Ich warne allerdings davor, darauf zu hoffen, dass sich die AfD sozusagen "erledigt". Die Flüchtlingsproblematik wird Deutschland und die deutsche Politik noch lange beschäftigen. Zudem hat die AfD bewiesen, dass sie Proteststimmungen verschiedenster Art "bedienen" kann.
Profilierungsschwierigkeiten im linken Lager
tagesschau.de: SPD und Grüne sind dort abgestürzt, wo sie zwar an der Regierung beteiligt waren, aber eben nicht die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten gestellt haben. Ist die Rolle des Juniorpartners also eine undankbare?
Abendschön: Für diese Landtagswahlen gilt das auf jeden Fall. In Koalitionen besteht immer die Gefahr, dass die kleineren Partner ein Stück weit untergehen. Offenbar haben es die Grünen in Rheinland-Pfalz und die SPD in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt versäumt, in den Wahlkämpfen ihr Profil ausreichend zu schärfen und auf ihren Anteil an politischen Erfolgen der Regierungen hinzuweisen. Auf bundespolitischer Ebene haben wir Ähnliches 2009 für die SPD und 2013 für die FDP beobachtet, als der damalige Juniorpartner noch nicht einmal den Wiedereinzug in den Bundestag schaffte.
tagesschau.de: Die Linkspartei ist auch im Osten, in Sachsen-Anhalt, weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Ist das generell eine Absage an linksorientierte Regierungen?
Abendschön: Unterm Strich hat das linke Lager deutlich verloren. In Sachsen-Anhalt hat die Linkspartei sogar stark an die AfD verloren. So unterschiedlich diese Parteien ausgerichtet sind, gibt es offenbar doch eine erhebliche Schnittmenge im Bereich der Protestwähler. Diese bringt insbesondere auch die SPD in Bedrängnis.
Dazu kommt: Die SPD hat, abseits von Rheinland-Pfalz, offensichtlich ein grundsätzliches Problem, deutlich zu machen, wofür die Partei steht. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass sie eben Partner der Großen Koalition in Berlin ist. SPD-Chef Sigmar Gabriel hat ja auch schon angekündigt, dass wieder deutlicher werden muss, wofür die SPD steht. Der Schlüsselbegriff der sozialen Gerechtigkeit dürfte in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle spielen.
"Mit der FDP ist wieder zu rechnen"
tagesschau.de: Die FDP legt in Baden-Württemberg deutlich zu und schafft den Wiedereinzug in den Mainzer Landtag. Was heißt das für die bundespolitische Bedeutung der Liberalen?
Abendschön: Mit der FDP ist wieder zu rechnen, zumindest in Westdeutschland. Nach dem Debakel von 2013 hat die Partei sozusagen ihre Stunde Null erlebt und sie hat sicherlich daraus gelernt, dass sie ihr Profil als insbesondere wirtschaftsliberale Partei stärkt. Dieses Profil wollen FDP-Chef Christian Lindner und sein baden-württembergisches Pendant offensichtlich nicht gleich wieder aufs Spiel setzen – deswegen auch ihre Absage an den grünen Wahlsieger Winfried Kretschmann und an die Ampel in Baden-Württemberg. Womöglich spekuliert Lindner auch auf eine Regierungsbeteiligung unter in einer CDU-geführten Koalition, an der auch die SPD beteiligt wäre. Ob Lindner sich und der FDP damit einen Gefallen tut, halte ich mindestens für eine gewagte These.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de