Ein Mann mit einem T-Shirt mit AfD-Logo während des Landesparteitags der Alternative für Deutschland Hessen (Archivbild)

"Das AfD-Paradox" Warum AfD-Wähler unter deren Politik leiden würden

Stand: 27.05.2024 13:28 Uhr

Wäre die AfD bei Wahlen so erfolgreich, dass ihr Parteiprogramm Regierungspolitik wäre, hätte vor allem deren heutige Anhängerschaft darunter zu leiden. Wie lässt sich dieses Paradox erklären?

Das Auditorium Maximum der Brandenburgischen Technischen Universität (BTU) in Cottbus ist gut gefüllt. Vor allem ältere Menschen sind zu der Vorlesung von Marcel Fratzscher, dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), gekommen. Sie findet im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Open BTU" statt, die offen für alle Interessierten ist.

Das Thema: "Das AfD-Paradox, die Auswirkungen des Populismus auf Wirtschaft und Gesellschaftliche Gruppen" macht offensichtlich viele neugierig. Zumal hier in Cottbus, wo die AfD schon länger viele Anhängerinnen und Anhänger hat. Die Partei ist seit fünf Jahren stärkste Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung.

AfD-Politik würde wohl ihren Wählern schaden

Allerdings sind viele Gäste der Vorlesung offensichtlich keine AfD-Wähler. Sie lauschen interessiert den Thesen Fratzschers. Er legt dar, dass die AfD in ihrem Europawahlprogramm eine neoliberale, antieuropäische und protektionistische Politik vertritt, die den Staat schwächen und der deutschen Wirtschaft schaden würde.

Leidtragende einer solchen Wirtschaftspolitik wären vor allem Menschen mit geringem Einkommen, die weniger gut ausgebildet sind und in eher strukturschwachen Gegenden leben. Das Paradoxe: Zur Anhängerschaft der AfD gehörten überproportional viele Menschen, auf die das zutreffen würde. 

Steuersenkungen verringern Umverteilung

Deutschland, so legt Fratzscher dar, sei ein Gewinner von Globalisierung und EU. Offene Grenzen und europäischer Binnenmarkt würden hierzulande Arbeitsplätze schaffen. Wer wie die AfD eine Auflösung der EU fordere und Grenzkontrollen zwischen EU-Ländern wieder einführen wolle, gefährde diese Arbeitsplätze. Wer Einwanderer verteufele, mache Deutschland auch für qualifizierte Zuwanderer unattraktiv - aber gerade die würden dringend gebraucht.

Genauso problematisch sei es, wenn die AfD Spitzensteuersätze senken sowie Erbschafts- und Schenkungssteuern abschaffen wolle. Der Staat hätte weniger Mittel zur Verfügung, um sozial Benachteiligte zu unterstützen oder dringend gebrauchte Investitionen in Infrastruktur und digitale Transformation zu finanzieren. Und dass sich die AfD in der Vergangenheit wiederholt gegen eine Erhöhung von Mindestlöhnen ausgesprochen habe, schade ganz direkt wirtschaftlich schwachen Personengruppen.

Warum Populismus erfolgreich ist

Aber warum ist eine Partei, die solche Positionen vertritt, dann so erfolgreich ausgerechnet bei denen, die unter den Folgen leiden würden? Diese Frage steht im Raum. Fratzschers Erklärung trifft bei den Gästen im Saal auf viel Zustimmung: Die Politik der letzten Jahrzehnte habe den früher gültigen Gesellschaftsvertrag gebrochen.

Das heißt: Die Ungleichheit zwischen Reich und Arm sei gewachsen. Die Welt insgesamt sei ungerechter und unfairer geworden. Das verunsichere breite Kreise der Gesellschaft. Das lässt sich auch Zahlen belegen. Einer Umfrage der Universität Bonn zufolge schauen 84 Prozent der Befragten mit Sorge in die Zukunft.

Region im Umbruch

Das zeigt sich auch in Cottbus: Die 100.000 Einwohnerstadt in der Niederlausitz durchlebt seit Jahren einen tiefgreifenden Wandel. Zu DDR-Zeiten war sie eine erfolgreiche Industriestadt mit Textilproduktion, Kohlebergbau und Energieerzeugung, doch mit der Wende ging erst die Textilindustrie zugrunde und jetzt mit dem Kohleausstieg auch die Energiewirtschaft. Zwar werden Milliarden in die Transformation investiert, doch im Empfinden der Menschen bleibt zunächst das Gefühl von Verlust und ein Misstrauen dem "Establishment" gegenüber.

Und genau das nutzten Populisten aus, so Fratzscher. Sie nähmen die Ängste der Menschen auf und lenkten sie gegen die vermeintlichen Verursacher: gegen sogenannte Eliten, gegen etablierte Parteien, gegen Medien und vor allem gegen Zuwanderer. Sie erzeugten eine Wir-gegen-die-Stimmung, die aus extremen Einzelfällen allgemeine Urteile mache. Etwa, wenn einzelne Immigranten kriminell würden, behaupten sie, alle Immigranten seien kriminell. Wenn einzelne Sozialhilfeempfänger den Staat ausnutzten, behaupten sie, alle täten das.

Entsprechend dürften einfach keine Migranten mehr kommen und die hier Lebenden sollten abgeschoben werden. Soziale Unterstützung, wie das Bürgergeld, sollte gekürzt oder gestrichen werden. Wer sich von solchen Argumentationen angesprochen fühle, trete gewissermaßen nach unten. Davon habe niemand einen Euro mehr in der Tasche.

 

Die Schuld der "Altparteien"?

Dazu passen auch die Fragen an Marcel Fratzscher: "Sind die 'Alt-Parteien' und jetzt gerade die Ampelregierung Schuld an der wachsenden Ungleichheit in der Gesellschaft, an der Verunsicherung der Menschen, die sie Populisten wie der AfD in die Arme treibt?"

Vor allem aber: "Was kann getan werden, um die Menschen wieder für die Demokratie gewinnen zu können, um die Gesellschaft wieder gerechter und fairer zu machen und wer sollte das tun?"

Die Antwort des Ökonomen Fratzscher darauf ist lang: Er stimmt zu, dass alle Parteien viele Fehler gemacht hätten. Ein Staat müsse faire Bedingungen für alle schaffen, und das sei versäumt worden. Dennoch sei es zu einfach, die Verantwortung für alles, was aus seiner Sicht schiefgelaufen ist, nur den Parteien anzulasten.

Es sei auch in der Wirtschaft vieles falsch gemacht worden. Unternehmen hätten zu oft den schnellen Gewinn gewählt, statt in Zukunftstechnologien zu investieren, hätten zu viel auf Hilfe vom Staat spekuliert, statt selbständige, mutige Entscheidungen zu treffen. Und nicht zuletzt hätten wir alle den Parteien sehr deutlich gemacht, dass uns an Veränderung, an Weiterentwicklung wenig gelegen sei. Es wurden eben genau die Parteien gewählt, die versprachen, den Status quo zu erhalten und nicht die, die unbequeme Forderungen stellten.

 

Was tun?

Wichtig sei jetzt, Mut zur Veränderung zu haben. Deutschland müsse sich zukunftsfest machen, das sei nur mit klaren Entscheidungen möglich, die auch weh tun könnten. Dafür sei eine gute Kommunikation notwendig. Die Gesellschaft müsse wieder mehr ins Gespräch kommen, mehr aufeinander hören. Und die Politik müsse dafür sorgen, dass die Menschen wieder mehr das Gefühl hätten, fair behandelt zu werden, ernst genommen zu werden und ehrlich informiert. Nur so könne die tiefe Verunsicherung der Mehrheit überwunden werden.

Und die AfD-Wähler? Wie könnten die zum Nachdenken bewegt werden? Nur durch Information und Gesprächsangebote wie beispielsweise bei der "Open BTU" bestehe die Chance dazu, meint Fratzscher.