Eine Frau putzt sich die Nase

Vorstoß des Allianz-Chefs Kein Lohn mehr am ersten Krankheitstag?

Stand: 07.01.2025 12:55 Uhr

In Deutschland beziehen krankgeschriebene Arbeitnehmer schon ab dem ersten Tag weiter ihr Gehalt. Wegen des hohen Krankheitsstands fordert Allianz-Chef Bäte nun einen Karenztag - und löst damit eine Debatte aus.

Der Vorschlag von Allianz-Chef Oliver Bäte, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern am ersten Tag einer Krankmeldung keinen Lohn mehr zu zahlen, stößt auf scharfe Kritik - aber auch auf Zustimmung. Bäte hatte in einem "Handelsblatt"-Interview gefordert, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag zu streichen und damit den sogenannten Karenztag wieder einzuführen.

40 Milliarden Euro Kosteneinsparung pro Jahr?

"Damit würden die Arbeitnehmer die Kosten für den ersten Krankheitstag selbst tragen", so Bäte. Die Arbeitgeber würden dadurch entlastet. In der Bundesrepublik gilt - anders als in einigen anderen Ländern - seit Jahrzehnten die Lohnfortzahlung ab dem ersten Krankheitstag. Für die Wiedereinführung eines Karenztages, der hierzulande in den 1970er-Jahren abgeschafft worden war, hatte sich kürzlich auch die Chefin der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, ausgesprochen. Bäte nannte als Beispiele Schweden, Spanien oder Griechenland.

Markus Reher, ARD Berlin, zur Debatte über Lohnkürzung im Krankheitsfall

tagesschau24, 07.01.2025 15:00 Uhr

Der Allianz-Chef sieht den hohen Krankenstand in Deutschland als Kostenproblem. Bäte sagte dem "Handelsblatt", Arbeitnehmer seien hierzulande im Schnitt 20 Tage pro Jahr krank, während der EU-Schnitt bei acht Krankheitstagen liege. Arbeitgeber zahlen laut Bäte hierzulande jährlich 77 Milliarden Euro Gehälter für krankgeschriebene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. "Von den Krankenkassen kommen noch einmal 19 Milliarden Euro hinzu. Das entspricht rund sechs Prozent der gesamten Sozialausgaben." Mit seinem Vorschlag könnten pro Jahr 40 Milliarden Euro eingespart werden.

Oliver Bäte

Oliver Bäte, Chef des Versicherungskonzerns Allianz

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland 2023 durchschnittlich 15,1 Arbeitstage krankgemeldet. Die Krankenkasse DAK-Gesundheit weist für 2023 sogar einen noch höheren Durchschnittswert aus: Demnach hatte weit über die Hälfte der DAK-Versicherten von Januar bis Dezember 2023 mindestens eine Krankschreibung. Im Gesamtjahr waren es der DAK zufolge im Durchschnitt 20 Fehltage pro Kopf. Die Techniker Krankenkasse berichtet von durchschnittlich 17,7 Tagen.

DGB warnt vor "Präsentismus"

Die Gewerkschaften reagierten empört auf die Idee von Bäte. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) nannte sie "zutiefst ungerecht" und warnte vor einer zunehmenden Tendenz bei Beschäftigten in Deutschland, trotz Krankheit zu arbeiten. "'Präsentismus', also krank bei der Arbeit zu erscheinen, ist branchenübergreifend weit verbreitet", sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. "Schon vor Corona gaben etwa 70 Prozent der Beschäftigten an, mindestens einmal im Jahr krank zur Arbeit erschienen zu sein und im Durchschnitt fast neun Arbeitstage pro Jahr trotz Erkrankung gearbeitet zu haben."

"Präsentismus" schade der eigenen Gesundheit und könne auch zur Ansteckung von Kolleginnen und Kollegen oder Unfällen führen - mit hohen Folgekosten. Zudem zeige das Bild zu Krankschreibungen keinen Handlungsbedarf, so Piel. Die Gewerkschafterin führte Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) an, die keinen dramatischen Anstieg der Fehlzeiten in Deutschland zeigten - weder im Vergleich mit anderen EU-Staaten, noch im Zeitverlauf.

Die IG Metall bezeichnete es als unverschämt und fatal, den Beschäftigten Krankmacherei zu unterstellen. "Wer Karenztage aus der Mottenkiste holt, greift die soziale Sicherheit an und fördert verschleppte Krankheiten", sagte Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban. "Die deutsche Wirtschaft gesundet nicht mit kranken Beschäftigten, sondern im Gegenteil mit besseren Arbeitsbedingungen."

Sozialexperte fordert drei Krankheitstage ohne Lohn

Kritik kommt auch aus der Startup-Branche. Tobias Stüber, Chef der Bus-Buchungsplattform Flibco, lehnt gegenüber der "Bild"-Zeitung unbezahlte Krankheitstage ab: "Ich kann dem CEO der Allianz versichern, dass er mit seinem Vorschlag falsch liegt." Mitarbeiter vertrauten keinem Unternehmen, das sie für Krankheit bestrafe. "Der Vorschlag, bei einem Tag Krankheit das Gehalt zu reduzieren, ist absurd", so Stüber. Die Lösung für eine höhere Gesundheitsrate sei stattdessen eine bessere Unternehmenspolitik und "eine Führungsebene, die zuhört".

Doch es gibt auch positive Resonanz. So sagte der Sozialexperte Bernd Raffelhüschen der "Bild"-Zeitung: "Die Einführung eines unbezahlten Krankheitstages ist ein sinnvoller Vorschlag und sollte von der nächsten Regierung zügig umgesetzt werden." Der Professor für Finanzwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg fordert sogar, dass Arbeitnehmer drei Krankheitstage lang keinen Lohn beziehen sollen.

Mercedes-Chef Ola Källenius unterstützte den Vorschlag ebenfalls. "Der hohe Krankenstand ist ein Problem für die Unternehmen. Wenn unter gleichen Produktionsbedingungen der Krankenstand in Deutschland teils doppelt so hoch ist wie im europäischen Ausland, hat das wirtschaftliche Folgen", sagte er "Bild".

Reaktionen aus Politik gemischt

Auch die Politik zeigt sich in Teilen offen für den Vorschlag. "Unsere Sozialsysteme werden immer weiter beansprucht", sagte Unions-Fraktionsvize Sepp Müller (CDU) dem Nachrichtenportal "Politico". "Aus diesem Grund sollten wir uns meiner Meinung nach nicht vor neuen Ideen verschließen und diese diskutieren. Auch wenn das Thema der Karenztage sich nicht in unserem Wahlprogramm findet, könnte dies ein altbewährter Ansatz sein."

Der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Tino Sorge (CDU), sagte dagegen: "Nur die allerwenigsten Menschen melden sich aus Spaß krank." Sorge forderte einen "Krankenstands-Gipfel", um mit den beteiligten Akteuren über die Lage zu beraten. Der Vorsitzende Arbeitnehmervereinigung in der CDU, Dennis Radtke, bezeichnete den Vorschlag des Allianz-Chefs als "gänzlich inakzeptabel". "Er steht für eine Kultur des Misstrauens gegenüber allen Arbeitnehmern", sagte er dem "Tagesspiegel".