Hintergrundgespräche in Brüssel Kann der "Brexit" noch abgewendet werden?
Spätestens bis Ende nächsten Jahres sollen die Briten in einem Referendum über ihren Verbleib in der EU entscheiden. Bis dahin wird fieberhaft verhandelt - so auch heute bei einem Treffen von Premier Cameron mit Kommissionschef Juncker und Parlamentspräsident Schulz.
Ich will die Organisation reformieren, hatte David Cameron gesagt. Mit "Organisation" meint der britische Premierminister übrigens die Europäische Union. Doch viel mehr als die EU interessiert den konservativen Briten derzeit offenbar sein eigenes Land. Er will die britische Position in der EU neu verhandeln, sagte Cameron.
Die britische Position, die sieht für ihn so aus: Die EU soll nicht weiter zusammenwachsen zu einer "ever closer union", einer immer engeren Union. Es soll mehr Wettbewerb auf dem europäischen Binnenmarkt geben. Und: EU-Bürgern, die in Großbritannien leben, sollen Sozialleistungen bis zu vier Jahren lang vorenthalten werden können. Doch das verstößt gegen europäisches Recht. Europäer dürfen in anderen EU-Ländern nicht schlechter gestellt werden als Einheimische.
Der britischer Premierminister Cameron setzt sich für Reformen ein - und will sein Land so in der EU halten.
Um diese Änderungen durchzudrücken, hat Cameron eine Volksabstimmung angesetzt, in der die Briten darüber entscheiden sollen, ob sie in der EU bleiben wollen oder nicht. Dieses Referendum soll spätestens bis Ende nächsten Jahres stattfinden, so Cameron. Möglicherweise kommt sie schon viel früher, im Juni dieses Jahres.
"EU darf nicht ihre Seele verkaufen"
"Ich bin der Meinung, dass die EU nicht ihre Seele verkaufen sollte, dass sie ihre Grundprinzipien über Bord werfen soll für das britische Referendum", sagt der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen. Andererseits gibt es einige Punkte, für die es recht schnell und unkompliziert eine Lösung geben könnte. Zum Beispiel bei der Forderung nach mehr Wettbewerb und weniger Bürokratie. Das wollen auch viele andere Länder.
Schwierig wird es beim Stopp von Sozialleistungen für EU-Bürger, meint der deutsch-britische Europaabgeordnete David McAllister von der CDU: "Die britische Forderung, dass man erst nach vier Jahren in Großbritannien ein Anspruch hat, Sozialleistungen zu bekommen, das ist mit dem Prinzip der Nichtdiskriminierung ganz schwer in Einklang zu bringen."
"Notbremse" für die Zuwanderung?
Bei den heutigen Hintergrundgesprächen mit Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Parlamentschef Martin Schulz wird es wohl genau darum gehen. Das Problem soll geklärt sein, bevor der "Brexit" zum großen Thema beim EU-Gipfel in drei Wochen wird.
Offenbar bietet die EU Großbritannien eine neue "Notbremse" für die Zuwanderung an. Es werde eine Regelung vorgeschlagen, nach der jedes Mitgliedsland Arbeitnehmern aus anderen EU-Staaten bis zu vier Jahre lang Sozialleistungen vorenthalten könne, ist aus Verhandlungskreisen zu hören. Allerdings muss das betreffende Land die anderen EU-Mitglieder erst einmal davon überzeugen, dass sein Sozialsystem besonders belastet sei.
Beschlüsse schon kommende Woche möglich
Sollte man sich auf die "Notbremse" einigen, könnte am Sonntag bei einem Treffen mit EU-Ratspräsident Tusk ein entsprechender Entwurf verabredet werden, der dann Anfang nächster Woche an die übrigen 27 EU-Mitglieder geschickt würde.
Der SPD-Europaabgeordnete Leinen erwartet, dass man jetzt mit Großbritannien zum Schluss kommt: "Wir wollen diese leidige Thema, Großbritannien drin oder raus endlich auch erledigt haben, weil Europa hat ganz andere Probleme als mit der Nörgelei aus Großbritannien sich noch Jahre rumzuschlagen."
Hoffnung auf ein Gentlemen´s Agreement
Seiner Einschätzung nach müssten für die Einigung nicht einmal die EU-Verträge geändert werden. Man könne dies mit Vereinbarungen regeln, meint Leinen: "Es gibt Möglichkeiten eines Gentlemen´s Agreement, wo man die Bedürfnisse aller Seiten berücksichtigen kann, ohne an den Grundlagen der EU zu rühren."
Eine solches Gentlemen's Agreement würde wohl auch David Cameron gefallen. Dann könnte er eine Trophäe nach Hause tragen und seine Reformbemühungen als Erfolg verkaufen. Und letztlich würde das geschehen, was Cameron insgeheim selbst unterstützt: Dass, es keinen "Brexit" gibt, dass Großbritannien drin bleibt in der Europäischen Union.