Sonnige Winterlandschaft im Ruhrgebiet, Eis und Schnee an der Lippe, hinten das RWE Gaskraftwerk Gersteinwerk.

Energiepolitik Ohne Gaskraftwerke kein Kohleausstieg?

Stand: 06.12.2021 17:00 Uhr

Wegen des von der Ampelkoalition angestrebten vorgezogenen Kohleausstiegs müssten in Deutschland neue Gaskraftwerke gebaut werden, sagen Experten. Nötig sei eine Verzehnfachung der Kapazitäten. Ist das machbar?

Von Notker Blechner, tagesschau.de

Die Energiepläne der Ampelkoalition setzen Deutschlands Versorger unter Druck. Experten und Vertreter der Energiebranche warnen, dass eine Stromlücke drohen könnte, wenn der Ausstieg aus der Kohle bereits 2030 käme. Dies wird im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP "idealerweise" angestrebt. Der massive Ausbau erneuerbarer Energien wird danach nicht reichen - vor allem nicht an Tagen, an denen wenig Wind geht und keine Sonne scheint.

Warnung vor Stromlücke

"Wenn Kohle- und Atomenergie komplett vom Netz gehen, entsteht eine gigantische Lücke, die gefüllt werden muss", sagt e.on-Chef Leonhard Birnbaum. Dies sei nur möglich mit einer Quelle, die zuverlässig liefert: Gas. Birnbaum sieht kurzfristig zu Gaskraftwerken keine Alternative. Auch die Industrie betrachtet Gaskraftwerke als unabdingbare Übergangstechnik für die Energiewende. Neue Gaskraftwerke seien nötig, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, betonte in den letzten Monaten der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) immer wieder.

Dementsprechend hat die künftige Regierung neben den erneuerbaren Energien wie Sonne und Wind den Bau neuer Gaskraftwerke im Fokus. Einzige Bedingung: Sie müssen "H2-ready" sein, das heißt: Sie müssen später auf den Betrieb mit grünem Wasserstoff umgestellt werden können. "Ohne neue Gaskraftwerke als Brückentechnologie laufen wir trotz aller Anstrengungen beim Ausbau der Erneuerbaren in ein Blackout-Risiko", warnt Andreas Pinkwart (FDP), Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen.

23 Gigawatt zusätzlich nötig

Wie hoch der Bedarf ist, hat nun das Energiewirtschaftliche Institut (EWI) an der Uni Köln ermittelt. Laut EWI-Experte Max Gierkink müssen bis 2030 neue Kapazitäten von 23 Gigawatt geschaffen werden. Das entspräche rein rechnerisch der Leistung von 23 Atomkraftwerken. Einen noch größeren Bedarf sieht der BDI. Präsident Siegfried Russwurm hält einen Zubau von Gaskraftwerken mit 43 Gigawatt Leistung bis 2030 für notwendig.

Von solchen Zielen ist die Energiewirtschaft bisher noch meilenweit entfernt. Aktuell ist bei der Bundesnetzagentur ein Ausbau von gerade einmal 2,3 Gigawatt bis 2023 geplant. Um die Klimaziele der baldigen Ampel-Regierung zu schaffen, müssten die Kapazitäten bis 2030 verzehnfacht werden. "Das ist ein Kraftakt", sagt EWI-Forscher Gierkink.

Versorger und Anlagenbauer stehen unter Zugzwang. Sie müssen jetzt schnell den Zubau neuer Kraftwerke angehen. Denn die Planung und der Bau neuer Projekte kann Jahre dauern. "Viel Zeit ist nicht mehr", mahnt Kerstin Andrae, Hauptgeschäftsführerin vom Bundesverband Deutscher Energie- und Wasserwirtschaft BDEW, im "Handelsblatt". "Wer den Kohleausstieg will, darf sich nicht gegen neue wasserstofffähige Gaskraftwerke stellen." Es müsse sichergestellt sein, dass diese Kraftwerke auch tatsächlich gebaut werden.

RWE will Gaskraftwerks-Kapazitäten ausbauen

Erste Versorger haben reagiert und zeigen sich bereit, in neue Gaskraftwerke zu investieren. So will RWE bis 2030 mindestens 2000 Megawatt Gaskraftwerkskapazität aufbauen. Denkbar wäre es, die Anlagen auf alten Kohlekraftwerksstandorten des Konzerns zu errichten. Mit 14 Gigawatt Kapazitäten besitzt RWE die zweitgrrößte Gaskraftwerksflotte in Europa. Auch der südwestdeutsche Versorger EnBW prüft, ob drei wichtige Kohlekraftwerke auf Erdgas und dann später auf klimaneutrales Gas umgerüstet werden können. Die STEAG will ebenfalls eine mögliche Umstellung des Steinkohlekraftwerks Walsum 10 in Duisburg auf Erdgas untersuchen.

Eine raschere Alternative wären kleine dezentrale Anlagen. "Statt sich ausschließlich auf neue gasbetriebene Großkraftwerke zu fokussieren, deren Planungs- und Genehmigungsprozesse Jahre in Anspruch nehmen, sind dezentrale Blockheizkraftwerke auf Basis der Kraft-Wärme-Kopplung schnell und einfach in vorhandene Infrastrukturen zu integrieren", heißt es vom Unternehmen 2G Energy, das sich auf solche Anlagen spezialisiert hat. Die Planungszeiten für dezentrale Kraft-Wärme-Kopplungsprojekte liegen zwischen zwei und acht Monaten.

Ruf nach der Politik

Der Chef von Siemens Energy, Christian Bruch, sieht jetzt die Politik am Zug. "Nun kommt es darauf an, die Pläne zügig umzusetzen und die Voraussetzungen für private Investitionen in den Umbau zu schaffen", fordert er. EWI-Forscher Gierkrink befürwortet staatliche Anreize für den massiven Zubau von Gaskraftwerken. "Die Marktbedingungen geben den Zubau von 23 GW derzeit nicht her."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 06. November 2021 um 12:28 Uhr.