Vorfahrt für Kohle, Gas und Öl Reisende befürchten Nachteile durch Güterzüge
Damit weiter Kohle in Kraftwerke und Öl in Raffinerien kommt, will die Bundesregierung Energietransporten auf der Schiene sechs Monate lang Vorrang einräumen. Was bedeutet das für Bahnreisende?
Demnächst könnten auf Bahnreisende noch längere Wartezeiten zukommen. Die Bundesregierung will den Energietransporten auf der Schiene sechs Monate lang den Vorrang einräumen. Das geht aus einem Papier der Bundesministerien für Wirtschaft und für Verkehr vom Wochenende hervor. "Ziel ist es, den Betrieb von Kraftwerken, Raffinerien, Stromnetzen sowie von weiteren lebenswichtigen Betrieben sicherzustellen", heißt es darin.
Güterzüge sollen dann vor Personenzügen Vorrang erhalten. Dann nämlich, wenn sie Kohle, Gas, Öl oder Trafos geladen haben - also alles, was Kraftwerke und Fabriken am Laufen hält. Wegen der niedrigen Pegelstände am Rhein kommt dort die Fracht kaum noch durch.
Werden die Züge für Fahrgäste noch unpünktlicher?
"Wir müssen deshalb überlegt und in sorgfältiger Abwägung Transporte priorisieren, um die Energieversorgung der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen", betont Bundesverkehrsminister Volker Wissing. Im Zweifel müsse der Personenverkehr warten, erläuterte der FDP-Politiker. Denn für gewöhnlich ist der Güterverkehr bislang dem Personenverkehr untergeordnet. Das könnte sich mit der neuen Verordnung nun umkehren.
Bedeutet das für die Bahnreisenden also noch längere Wartezeiten? Verspätungen für die Fahrgäste sollen zumindest dem Regierungspapier zufolge "weitestgehend" vermieden werden. Helfen könnte, dass die 9-Euro-Ticket-Aktion Ende August ausläuft und die Sommer-Reisewelle allmählich abebbt. Andere sehen dagegen keine Entspannung auf den Schienen, auch nach einem Ende des 9-Euro-Tickets.
Fahrgastrekorde bei der Bahn
Schon im Mai habe es im Fernverkehr Fahrgastrekorde gegeben, sagt etwa Dennis Junghans vom Interessenverband Allianz pro Schiene auf Anfrage von tagesschau.de. Nach Branchenangaben sind zudem noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, bestehende Güterzüge zu verlängern oder auch mehr in der Nacht zu fahren.
Es lassen sich ohnehin kurzfristig nicht alle Transporte auf die Schiene verlagern, denn die Wagen sind europaweit knapp. Weder der Bundeskonzern noch seine Güter-Konkurrenten verzeichnen derzeit eine höhere Nachfrage nach Energietransporten. "Die Rechtsverordnung zur Priorisierung versorgungsrelevanter Züge ist eine sinnvolle Vorsorgemaßnahme der Bundesregierung", heißt es denn auch bei der Deutschen Bahn. "Ob sie überhaupt zum Tragen kommen muss, bleibt abzuwarten."
Bereits jetzt schon viele Verspätungen
Derzeit sind so viele Züge unterwegs wie nie. Gleichzeitig aber wird auf Rekordniveau gebaut, damit das sanierungsbedürftige Schienennetz durchhält. Zudem fluten Massen von 9-Euro-Ticket-Kunden die Regionalzüge; die Bahn muss schon Zusatzpersonal einsetzen, um das Ein- und Aussteigen zu beschleunigen. Weniger als 60 Prozent der Fernzüge waren zuletzt pünktlich - und da sind verspätete Abfahrten von bis zu sechs Minuten schon mit drin. Auch im Regionalverkehr sind es mit unter 90 Prozent außergewöhnlich wenig pünktliche Züge.
Dabei kommen auch Güterzüge zu spät. Weil zeitweise mehr als 200 Güterzüge still standen, schimpft auch die Industrie seit Monaten über die Bahn. Dazu kommen nun zwei Krisen auf einmal: die Energiekrise infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und die Klimakrise in Form von Trockenheit und Niedrigwasser im Rhein.
Wie viel Kohle, Öl und Gas laufen über die Schiene?
Die Deutsche Bahn als Marktführer fährt wöchentlich 50 Züge mit je 3000 Tonnen Steinkohle. Ein großes Steinkohlekraftwerk wie Gelsenkirchen-Scholven braucht unter Volllast 20.000 Tonnen am Tag. Bis zu 40 Millionen Tonnen transportiert die Deutsche Bahn nach eigenen Aussagen jedes Jahr. Verglichen mit den 20.000 Cargo-Zügen insgesamt fallen die 50 Kohlezüge nicht so sehr ins Gewicht, auch nicht wenn ihre Zahl verdoppelt würde. Kohle lässt sich außerdem gut auf Halde legen - muss also nicht unbedingt zu bestimmten Tageszeiten zum Kraftwerk.
Der Großteil des gesamten Güterverkehrs in Deutschland wird jedoch nach wie vor über die Straßen transportiert. 2020 betrug der Anteil der Güterzüge am gesamten Güterverkehr nur 18 Prozent. Lkw waren für rund 73 Prozent verantwortlich. Binnenschiffe für 6,9 Prozent. Laut Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden 2021 insgesamt 3,1 Milliarden Tonnen an Gütern mit Lkw transportiert. Eisenbahnen transportierten im vergangenen Jahr 357,6 Millionen Tonnen und Binnenschiffe 195,1 Millionen Tonnen.
Kritik an Verordnung
Der Fahrgastverband Pro Bahn hält nicht viel vom Vorrang für Züge mit Kohle, Öl, Gas oder Trafos. "Es darf kein Nah- oder Fernverkehrszug für diese Transporte ausfallen", verlangt der Vorsitzende Detlef Neuß. In der 9-Euro-Ticket-Aktion offenbarten sich alle Probleme der Eisenbahn in Deutschland. "Wir haben in den letzten drei Jahrzehnten beim Ausbau geschlafen und sogar sträflich Infrastruktur abgebaut." Jetzt noch mehr Verspätungen? Das würden die Leute aus den Zügen zurück ins Auto treiben, meint Neuß. "Das ist genau das, was wir nicht wollen."
Junghans von Allianz pro Schiene sieht die Verordnung als reine Vorsichtsmaßnahme. Es sei fraglich, wie viele Energietransporte am Ende wirklich auf der Schiene liefen. Auch wenn es schlimmsten Fall dazu führen könne, dass ein Güterzug vor einem ICE fahre, so gehe er aber davon aus, dass das Problem mit Augenmaß zu lösen sei. Fakt sei, dass das Schienennetz auch jetzt schon an einigen Orten überlastet sei.
"Fehlplanungen fallen uns auf die Füße"
Die Fehlplanungen der Vergangenheit, fielen "uns" jetzt auf die Füße. Hätte man eine leistungsfähige Infrastruktur, dann müsse man keine Debatte darüber führen, welche Züge einander überholen dürften. Seit 1995 sei das Schienennetz in Deutschland um 15 Prozent geschrumpft, der Güterverkehr aber signifikant gestiegen. Es seien immer mehr Züge auf immer weniger Schienen unterwegs, kritisiert Junghans.
Zu den Plänen der Bundesregierung sagt Peter Westenberger, Hauptgeschäftsführer des Netzwerks Europäische Eisenbahnen (NEE), tagesschau.de, dass sie sich als Kopfgeburt erweisen können. Komme es dazu, dass Züge mit Diesel, Benzin oder Kerosin durchfahren könnten ohne anzuhalten, bekämen alle anderen Verkehrsarten große Probleme. Das Chaos auf der Schiene würde dann richtig groß. Denn dass die anderen Züge einfach links oder rechts auf die Seite fahren können, das gehe kaum.
Alternativen für Vorrang von Energietransporten
Wie für den Personenverkehr würden auch für den Güterverkehr auf der Schiene weit im voraus Fahrpläne von DB Netz ausgegeben, um alle Züge auf dem Netz zu koordinieren, sagt Westenberger. Wolle man also kurzfristig fahren, könne es sein, dass die Schienen dann schon belegt seien. Dann müssten die Züge Umwege fahren. Zwischen den verschiedenen Energieformen gebe es da Unterschiede: Kohletransporte würden etwa langfristig geplant. Die Mineralölwirtschaft mache dagegen von einem flexibleren und kurzfristigen Güterverkehr Gebrauch, daher bekomme sie oft nicht ganz so gute Trassen wie andere mit einem längeren Fahrplan.
Westenberger weist darauf hin, dass die Unternehmen schon heute ihre Güterzüge vorziehen lassen können. Sie müssten für die sogenannten Express-Trassen aber einen höheren Preis zahlen. Die Nutzung solcher könnten die Mineralöl- und Kohlefirmen nun geschenkt bekommen.
Zu wenige Güterwagen
Zudem gebe es ein Problem mit einer limitierenden Anzahl von Güterwagen in der Mineralölwirtschaft, sagt Westenberger. Die Güterwagen gehörten den Firmen selbst. Schon vor einigen Jahren habe es Engpässe bei den Güterwagen gegeben, als der Rhein ebenfalls Niedrigwasser aufwies und die Transporte von den Binnenschiffen auf die Schiene verlagert werden mussten. Damals hätte sich die Branche dazu entscheiden müssen, mehr Wagen zu holen, kritisiert er.
Die Ministerien würden sich derzeit vor allem darauf konzentrieren, die Züge schneller machen zu wollen. Das greife jedoch zu kurz, man müsse sich alle Optionen ansehen. So könne die Deutsche Bahn überlegen, welche Baustellen man nach hinten verschieben könne. Westenberger plädiert auch für eine gesicherte Durchfahrt. Das heißt, dass mehr mit einer Zugfahrt transportiert werden könne. Andere Züge mit Containern könnten aber auch einen längeren Umweg fahren und die Schienen für Energietransporte frei machen. Die Mehrkosten, die ihnen dadurch entstünden könnten dann etwa von den Verladern ausgeglichen werden, die dann die freigewordene Strecken nutzen können.