Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich Immer noch "Génération précaire"
Jeder vierte Franzose unter 25 hat keinen Job. Die Ursachen dafür sind tief im französischen Ausbildungssystem verwurzelt: Es fördert Eliten, bereitet aber nur mangelhaft auf die Arbeitswelt vor. An eine echte Reform traute sich die Politik bislang nicht ran - und die Probleme sind vielschichtig.
Von Anna-Mareike Krause und Gregor Taxacher für tagesschau.de
Präsident François Hollande wählte starke Worte: 2013 solle das "Jahr der großen Schlacht für Arbeit" werden, sagte er. Und versprach, bis zum Jahresende die Arbeitslosenkurve umzukehren.
Tatsächlich herrscht dringender Handlungsbedarf. Die Arbeitslosenquote in Frankreich lag Ende 2012 bei mehr als zehn Prozent. Seit fast zwei Jahren steigt die Erwerbslosigkeit in Frankreich stetig an, die Zahl der Menschen ohne Job hatte bereits im Oktober 2012 die Drei-Millionen-Marke überschritten, nun liegt sie bei 3,1 Millionen. Betroffen sind vor allem junge und ältere Menschen.
"Die Stimmung unter jungen Leuten ist eher pessimistisch"
27 Prozent der jungen Französinnen und Franzosen, also mehr als jeder Vierte unter 25, ist ohne Job. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 8,1 Prozent. "Die Stimmung unter den jungen Leuten in Frankreich ist eher pessimistisch", sagt Margarete Riegler-Poyet von der deutsch-französischen Industrie- und Handelskammer.
Es gehörte unter anderem zu den Wahlversprechen von Hollande, einen Generationenvertrag einzuführen, den "Contrat des Générations". Das hat er bereits erfüllt: Kleine und mittelständische Betriebe, in denen ein über 57-Jähriger mindestens drei Jahre lang Pate ist für einen unter 25-Jährigen, erhalten nun pro Teilnehmer 2000 Euro monatlich - also 4000 Euro pro Tandem. Zum einen sollen so die Arbeitsplätze für ältere Arbeitnehmer erhalten bleiben, zum anderen neue Jobs für jüngere geschaffen werden.
Wer einen Job hat, ist abgesichert
Denn der französische Arbeitsmarkt gilt als unflexibel - und somit wenig durchlässig für den Nachwuchs. "Die Gewerkschaften haben lange für diejenigen gekämpft, die bereits einen Arbeitsplatz hatten. Denen haben sie einen guten Kündigungsschutz gesichert, weshalb in Frankreich alle nach einem unbefristeten Arbeitsvertrag streben", erklärt Dominik Grillmayer, Politikwissenschaftler am Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg. "Die Jungen aber werden jahrelang in prekären Beschäftigungen gehalten. Es fehlt der Mittelweg."
Die Reform scheiterte an einer Protestwelle
Einen solchen Mittelweg versuchte bereits der vorige Präsident Nicolas Sarkozy teilweise: Seine Arbeitsmarktgesetze zielten auf eine arbeitgeberfreundliche Liberalisierung, die Einstellungen erleichtern sollte. So wurde die seit zehn Jahren geltende 35-Stunden-Woche durch flexible Überstundenregelungen faktisch abgeschafft.
Für Jugendliche sollten bis zu zweijährige Probe-Arbeitsverträge eingeführt werden. Sarkozy sah darin eine Erleichterung für den Einstieg in den Arbeitsmarkt, viele Betroffene jedoch eine wachsende soziale Unsicherheit. Die Reform scheiterte an einer Protestwelle. "Frankreich hat demografisch ein hohes Potenzial, eine vergleichsweise junge Bevölkerung", sagt Grillmayer. "Aber die Viertel mit dem höchsten Jugendanteil sind die armen Vorstädte. Und die Jugendlichen dort sind am schlechtesten ausgebildet und haben die geringsten Chancen."
Jugendarbeitslosigkeit in den Banlieues: 42 Prozent
In den offiziell als "sensible urbane Zonen" betitelten Banlieues liegt die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei 42 Prozent. Dort entzündete sich im Herbst 2005 der Protest einer Generation. "Génération Précaire" nannten sie sich, "prekäre Generation". Wochenlang gingen Jugendliche auf die Straße, aus Demonstrationen wurden Krawalle.
Sarkozy, damals noch Innenminister, reagierte zunächst mit dem Ruf nach "Kärcher-Reinigern" gegen das "Gesindel". Als Präsident versprach er dann Besserung, berief 2008 öffentlichkeitswirksam die Migrantin Fadela Amara zur Staatsministerin für Städtepolitik und verkündete einen "Marshallplan für die Vorstädte" unter dem Titel "Hoffnung Banlieue". Getan hat sich dennoch wenig: Sozialarbeiterstellen wurden gestrichen, Häuserblocks abgerissen und neu gebaut oder saniert. Die erhoffte soziale Durchmischung stellte sich nicht ein.
Ein altes, eliteschaffendes Bildungssystem
All diese Maßnahmen treffen aber nicht den Kern des Problem. Denn der liegt tief im französischen Bildungs- und Ausbildungssystem verwurzelt. Das französische Bildungssystem stammt noch aus der Herrschaftszeit Napoleons. 85 Prozent aller französischen Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs verlassen die Schule mit dem Baccalaureat, dem Abitur. Zum Vergleich: In Deutschland waren es im Jahr 2010 rund 49 Prozent - einschließlich der Fachabiturienten. Und während in Frankreich die Mehrheit aller Abiturienten ein Studium abschließt, sind es in Deutschland nur knapp 30 Prozent eines Jahrgangs.
"Manuelle Arbeit immer verbunden mit Schulversagen"
Aus deutscher Perspektive mit dem etablierten dreigliedrigen Schulsystem ist es schwer nachzuvollziehen, dass es etwas Anrüchiges haben kann, einen Ausbildungsberuf zu ergreifen. In Frankreich ist das anders.
Einen Ausbildungsberuf ergreifen in Frankreich überwiegend diejenigen, die keinen oder nur einen niedrigen Schulabschluss geschafft haben. "Weil die manuelle Arbeit immer verbunden ist mit Schulversagen, hat sie für viele ein unattraktives Image", sagt Margarete Riegler-Poyet von der deutsch-französischen Industrie- und Handelskammer. "Deshalb kommen viele Jugendliche gar nicht auf die Idee, eine Ausbildung zu machen - auch nicht, wenn sie die Schule ohne Abitur verlassen."
"Unternehmen fühlen sich nicht verantwortlich"
"Frankreich fehlt ein duales Ausbildungssystem", sagt auch Grillmayer. "Der Übergang von der Schule oder auch dem Studium in den Beruf ist in Frankreich viel schwieriger zu bewältigen als in Deutschland. Zwar haben diejenigen, die Eliteschulen absolviert haben, keine Probleme einen Job zu finden. Aber auch sie sind auf einen Beruf nur mangelhaft vorbereitet."
Im zentralistischen Frankreich ist allein der Staat zuständig für die Ausbildung seiner Jugendlichen. Unternehmen zahlen seit 1925 eine Ausbildungsabgabe und erwarten dafür junge Mitarbeiter, die fertig ausgebildet und sofort im Beruf einsetzbar sind. "Die Unternehmen fühlen sich nicht verantwortlich, sie sind aber auch nicht genug eingebunden in die Konzeption der Ausbildung", sagt Riegler-Poyet.
"Es gibt seit Jahren Ansätze, dieses System zu reformieren. Aber statt Strukturen zu ändern, zahlt die Politik in Frankreich lieber Prämien für die Einstellung gering qualifizierter Jugendlicher", kritisiert Grillmayer. Auch François Hollande will bis Ende 2014 150.000 sogenannte "Zukunftsjobs" schaffen, "Emplois d’avenir", staatlich subventionierte Stellen für Jugendliche ohne Abschluss. "Das ist haushaltspolitisch problematisch", urteilt der Politikwissenschaftler Grillmayer, "und ändert zudem nichts an den Verhältnissen".