Interview

Diskussion über Rente mit 67 "Die klassische Lohnarbeit hat ausgedient"

Stand: 12.08.2010 19:57 Uhr

Ist Deutschland überhaupt bereit für eine neue Arbeitswelt, wenn derzeit die meisten früher in Rente gehen, als es das bisher geltende Renteneintrittsalter von 65 Jahren vorsieht? Um das richtige Alter wird heftig gestritten: Parteien, Wirtschaftsforscher, Gewerkschaften und Sozialverbände sind sich uneins, ob es bei 65 Jahren bleiben - oder auf 67, gar 70 Jahre angehoben soll. tagesschau.de hat bei Zukunftsforscher Matthias Horx nachgefragt, was sich ändern müsste, damit mehr Menschen länger arbeiten können.

tagesschau.de: Herr Horx, wer hat aus Ihrer Sicht Recht - Befürworter oder Kritiker der "Rente mit 67"?

Matthias Horx: Die Debatte wird um die falsche Fragestellung geführt. Das Renteneintrittsalter ist unerheblich angesichts der Dimension gesellschaftlicher Veränderung. Arbeitsformen und -weisen verändern sich von der Industrie- zur neuen Wissensgesellschaft. Es verändern sich die Biografien: Die Lebenszeit verlängert sich, gleichzeitig entwickeln sich dabei andere Lebensphasen als früher. Es gibt Ältere, die mit 60 oder 70 Jahren neue Aufbrüche wagen. Manche reisen oder sind heute in einem Alter berufstätig, in dem man sich früher hinter dem Herd verkrochen hat.

tagesschau.de: Wie müsste die Arbeitswelt von morgen aussehen, damit Menschen länger arbeiten können?

Horx: Erst einmal müssen wir uns von der klassischen Lohnarbeit verabschieden, wie sie sich in der industriellen Gesellschaft 50 Jahre lang entwickelt hat, sie hat ausgedient. Manche Berufsgruppen müssen zwar bis heute schwer körperlich arbeiten - so dass man weder Lust hat noch es schafft, länger als bis 60 oder 65 zu arbeiten. Aber diese Menschen werden weniger. Noch 1980 betraf das die Hälfte aller Arbeitnehmer, heute sind es zwischen 10 und 20 Prozent.

Zur Person

Matthias Horx ist Zukunfts- und Trendforscher mit eigenem Institut und Autor zahlreicher Bücher (Zuletzt: "Das Buch des Wandels - Wie Menschen ihre Zukunft gestalten", 2009).

Es muss sich ein neues Verständnis des "sich wandelnden Berufslebens" entwickeln. Dass ein Dachdecker bis 50 seinen Beruf ausübt und danach Ausbilder für Dachdecker wird oder auch andere Berufswege einschlagen kann - das ist eigentlich das Selbstverständlichste der Welt. Unsere Kinder werden drei, vier Berufe in ihrem Leben haben - und das als Bereicherung empfinden, nicht als Zwang.

"Wir führen eine reine Opferdebatte!"

tagesschau.de: Das heißt, es müsste normal werden, mittels lebenslanger Weiterbildung Berufsbilder mal zu wechseln?

Horx: Das lebenslange, auf eine ganz spezifische Tätigkeit konzentrierte Arbeitswesen ist heute bereits in der Erosion begriffen. Das liegt nicht nur an den anderen Anforderungen der Arbeitswelt - es gibt auch immer mehr Menschen, die etwas Neues ausprobieren, ihr Leben neu gestalten wollen. Diese individuellen Spielräume werden in der Diskussion grundlegend unter den Teppich gekehrt. Wir führen eine reine Opferdebatte, damit dreht sich die Diskussion immer im Kreis.

tagesschau.de: Was wäre die Alternative?

Horx: Wir müssen von der Zwangsdebatte "Rente mit 67 als Muss" umschalten auf eine ganz andere Debatte. Und zwar um die Frage, wie wir ein sinnerfüllteres Leben zwischen Beruf, Familie und persönlicher Entwicklung gestalten können. Arbeit ist ja nicht nur das, was uns quält, sie ist auch Sinn und Erfüllung. Es gibt viele Menschen, die ihren Beruf lieben und gar kein Interesse daran haben aufzuhören. Für die ist Arbeit auch mehr als reine Lohnarbeit. Solange Arbeit für jemanden nur Lohnarbeit ist, fremdbestimmt, monoton und sich wiederholend, haben Menschen auch ein Bedürfnis, so früh wie möglich auszusteigen. Wir wissen aber auch, dass Menschen, die sehr früh verrentet werden, auch früher sterben - weil Arbeit eben Teil eines erfüllten Lebens ist.

tagesschau.de: Wie ließe sich eine solche Flexibilität in einem Sozialversicherungssystem von der Politik fair regeln?

Horx: In vielen Ländern entwickelt sich heute das so genannte "Cappuccino-Prinzip": Der Staat zahlt nur eine Grundrente, während die "Sahne" eine privat angesparte, aber staatlich gesicherte Altersversicherung ist - und der "Kakao" eine weitere, rein private Versicherung. Wir könnten darüber hinaus neue Versicherungsformen finden, die den flexiblen Arbeitsbiografien entsprechen. Wenn Paare Familien gründen, haben sie einen höheren Zeitbedarf, jenseits der Lohnarbeit. In dem Fall kann man sich eine Versicherung vorstellen, die Transfers auf spätere Lebensphasen verschiebt, wenn man wieder mehr arbeiten kann. Wir müssen aus dem heute vorhandenen also ein sehr viel flexibleres und individuelleres Rentensystem schaffen.

tagesschau.de: Kindererziehung, Alten- und Krankenpflege erfordern oft Teilzeitphasen - heißt das auch, dass man mit wachsender Gleichberechtigung auch das alte Prinzip eines bis zu 45-jährigen Vollzeit-Arbeitslebens in Frage stellen sollte?

"Wechselvolle Arbeitsbiografie heute schon Realität"

Horx: Wir erleben heute schon eine Flexibilisierung von Arbeitsformen. Die guten Firmen bieten heute schon eine Vielfalt davon an und wissen sehr wohl, dass ein Mensch im Laufe seiner Arbeitsbiografie in sehr unterschiedliche Situationen geraten kann. Das Problem ist, dass wir eine Tradition der Bezahlung nach Anwesenheit in Büro oder Fabrik haben. Obwohl es heute schon viele Möglichkeiten von Heimarbeit gibt, um mehr Flexibilität in Bezug auf die Familie herzustellen.

Eine lebenslang wechselvolle Arbeitsbiografie ist heute schon die Realität von mindestens einem Drittel, wenn nicht gar der Hälfte der Menschen - und in den Medien wird das immer als eine Art Sicherheitsverlust dargestellt. In Wirklichkeit ist es ein Freiheitsgewinn für die eigene Lebensgestaltung.

tagesschau.de: Gibt es Länder, die da schon weiter sind als wir?

Horx: Die skandinavischen Länder treiben das ganz stark voran. Sie haben in Skandinavien heute längst eine Arbeitskultur, in der auch Führungskräfte nicht bis spät abends im Betrieb sind. Dort ist es ganz selbstverständlich, dass man in der Familienphase weniger arbeiten und trotzdem Karriere machen kann. In dem Moment, wo man flexible Arbeitsformen in Deutschland wählt, hat man meistens seine Karriere beendet. Das gilt besonders für Frauen. Für die Rentenhöhe ist das fatal, weil selbst hoch Gebildete dann eine geringe Rente bekommen.

tagesschau.de: Und wie ließe sich das ändern?

Horx: Man muss die Arbeitsgesellschaft insgesamt durchlässiger und das System atmender machen. Das ist eine gesellschaftliche Herausforderung, die mehr als eine Verordnung "Rente mit 67" erfordert. Wir müssen an allen Stellschrauben drehen, damit eine neue, humanere Arbeitswelt entsteht. Wir sollten nicht vergessen, dass die alten "Malocher-Sicherheiten" auch nicht immer das Gelbe vom Ei waren!

Das Interview führte Corinna Emundts, tagesschau.de.