Fachkräftemangel in Deutschland Arbeitsmarkt braucht viel mehr Zuwanderer
Zuwanderer lindern bereits heute den Fachkräftemangel. Doch die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt nehmen zu. Anwerbungen aus dem Ausland sollen helfen. Ein Problem: die Wartezeit auf Visa.
Ismael Fernandes wäre längst nach Guinea abgeschoben worden - ohne seinen Ausbildungsplatz. Doch mittlerweile ist er nicht mehr Flüchtling, sondern ein anerkannter Facharbeiter. Die Firma ONI aus Lindlar hat ihm und weiteren neun geflüchteten Menschen einen Job gegeben. "Wir haben sofort Arbeitsverträge abgeschlossen, weil das die einzige Sicherheit war, die Männer vor einer Abschiebung zu bewahren", sagt Firmengründer Wolfgang Oehm. Sein Betrieb entwickelt Kühlanlagen für die Industrie und schafft energiesparende Systemlösungen. Sie suchen hier Monteure, Mechatroniker oder auch Techniker im Kundendienst.
Für die zehn Geflüchteten hat die Firma extra Lehrer angestellt, weil die Maßnahmen des Integrationsgesetzes alleine nicht ausreichten: Mathe und Deutsch lernen sie mitten im Betrieb mit Fachvokabeln, die kein regulärer Sprachkurs vermittelt. Zuwanderung sehen sie hier als eine Lösung für den Fachkräftemangel, aber auch als Verantwortung gegenüber Menschen, denen es in ihrer Heimat nicht so gut geht.
Bereits Tausende Migranten in der Altenpflege
Die Fachkräfteengpässe auf dem Arbeitsmarkt haben in den vergangenen Jahren weiter zugenommen. Dirk Werner vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) forscht seit Jahren zu dem Thema. "Dauerhafte und nachhaltige Zuwanderung kann einen großen Effekt auf die Fachkräftesicherung haben", sagt Werner. "Die meisten Personen wandern im Alter zwischen 18 und 35 Jahren ein." Zuwanderung trage bereits nennenswert zur Senkung des Fachkräftemangels in Deutschland bei. So waren im Jahr 2020 beispielsweise mehr als 12.000 Menschen, die von außerhalb der EU stammen, in der Altenpflege, über 26.000 in der Gesundheits- und Krankenpflege, mehr als 9000 als medizinische Fachangestellte und gut 1400 als Physiotherapeuten beschäftigt.
Doch um den Mangel langfristig in den Griff zu bekommen, bräuchte es deutlich mehr Anstrengung bei der Anwerbung, sagen die Arbeitsmarktforscher vom IW. Und das sei nicht immer einfach. "Hemmnis ist in einigen Ländern die überlange Wartezeit auf Visa, was arbeitsmarktorientierte Zuwanderung nach Deutschland stark erschwert", sagt Werner. "Aus Sicht von Zuwanderungsinteressierten haben andere Länder den Vorteil, dass mit einer Zuwanderung ein dauerhafter Aufenthalt gewährt wird, was in Deutschland wegen der Anerkennung bis zu acht Jahre dauern kann."
"Anerkennungsverfahren sind aufwändig"
Ähnlich kritisch sieht Birgit Naujoks das System in Deutschland. Sie ist Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats NRW. "Die Anerkennungsverfahren zur Feststellung der Gleichwertigkeit von Abschlüssen und beruflichen Kompetenzen sind zeitlich und finanziell aufwändig", sagt Naujoks. "Hier ergibt sich oftmals Nachqualifizierungsbedarf für die Menschen, der schwierig umzusetzen ist." Auch die Verfahren zur Erteilung eines Visums dauerten trotz der Möglichkeit des beschleunigten Verfahrens teilweise sehr lange. Mitunter könnten Arbeitgeber Arbeitsplatzzusagen dann nicht mehr einhalten.
Dabei wäre Personal aus dem Ausland relevant für Deutschland. Unter den zehn Berufen mit den größten Fachkräftelücken befinden sich laut IW drei Handwerksberufe: die Bauelektrik, die Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik sowie die Kraftfahrzeugtechnik.
Gespräche mit verschiedenen Ländern
Um den demographischen Wandel auszugleichen, bräuchte es in Deutschland laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung eine Zuwanderung von 400.000 bis 500.000 Menschen - und das nicht nur einmalig, sondern jedes Jahr. Es sei Zeit zu handeln für Politik und Unternehmen, sagt IW-Experte Werner. "Die deutsche Migrationspolitik muss ihren Fokus stärker auf die Westbalkanstaaten, Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo sowie auf außereuropäische Drittstaaten mit hohen Geburtenraten und vielen jungen Menschen richten", so der Wirtschaftsforscher. "Derzeit laufen Gespräche mit Fokusländern in Lateinamerika, Brasilien, Mexiko, Kolumbien, in Nordafrika Marokko, Tunesien, Ägypten, Indien und in Südostasien, Indonesien, Philippinen, Vietnam. Diese Länder bieten großes Potenzial an beruflich oder akademisch qualifizierten Fachkräften für die Zuwanderung und sind offen für die gezielte Anwerbung aus Deutschland."
Doch der Fachkräftemangel ist längst kein rein deutsches Problem; auch die restlichen EU-Länder brauchen Fachkräfte aus dem Ausland, um den nationalen Bedarf zu decken. Viele Zuwanderer verlassen Deutschland schnell wieder - wegen der Bürokratie, fehlender Aufstiegschancen oder der Probleme, Abschlüsse anerkennen zu lassen.
Mitarbeiter als Kulturbotschafter
Eine erleichterte Fachkräfteeinwanderung könnte laut Institut der Deutschen Wirtschaft Abhilfe schaffen und Zuwanderer von Bürokratie entlasten. "Aktuell ist für Fachkräfte mit Berufsausbildung eine Hürde, dass eine berufliche Anerkennung Voraussetzung für die Zuwanderung ist", sagt Experte Werner. Derzeit werde jedoch diskutiert, die Anerkennung nach erfolgter Zuwanderung in einer "Anerkennungspartnerschaft" mit dem einstellenden Unternehmen nachzuholen.
In Lindlar bei der Firma ONI weiß man um den Mehraufwand. So wurden Mitarbeiter als Kulturbotschafter eingesetzt, um Spannungen zwischen den unterschiedlichen Kulturkreisen von vornherein auszuschließen. Innerbetrieblich sei der Ausbildungsbereich verdreifacht worden, so die Firma, und ein zusätzlicher Ausbilder wurde eingestellt. Lehrkräfte kümmern sich sich nur um Förderung in Mathe und Physik, auch Patenschaften mit deutschsprachigen Auszubildenden wurden eingerichtet. Am Ende habe sich das für alle Seiten gelohnt: Die intensive Betreuung habe dazu beigetragen, dass nicht nur die Berufsausbildung, sondern auch die Integration im beruflichen und privaten Umfeld geglückt sei.