Nobelpreisträger Krugman zur Krise Star-Ökonom drängt Merkel zu Abkehr vom Sparkurs
Mitten in der Finanzkrise setzt Deutschland auf ausgeglichene Haushalte und geringe Ausgaben. Nach Ansicht des US-Ökonomen Paul Krugman eine falsche Entscheidung. Im ARD-Interview sagt er: Deutschland sei zwar nicht Schuld an der Krise, hindere angeschlagene Staaten aber daran, sich über den Export zu erholen.
tagesschau.de: In Europa reden alle über die Absicht der Europäischen Zentralbank (EZB), alles daran zu setzen, den Euro zu retten. Der Ankauf von Staatsanleihen schwächelnder Staaten wie Italien oder Spanien durch die EZB bleibt aber umstritten. Die deutsche Regierung hat sich bereits dagegen ausgesprochen. Was sagen Sie dazu? Liegt EZB-Chef Mario Draghi mit seiner Strategie richtig?
Paul Krugman: Wir wissen eigentlich nicht, wie seine Strategie genau aussieht. Er sagt, er will alles daran setzen, den Euro zu retten, hat aber nicht klar gemacht, was er im Detail vorhat. Er hat angedeutet, dass der Ankauf von Staatsanleihen südeuropäischer Länder eine Maßnahme sein könnte. Das ist natürlich eine notwendige Voraussetzung, wenn man den Euro retten will. Aber ich denke, das allein wird nicht ausreichen, es ist nur ein erster Schritt. Erfolgt er aber nicht, wird man den Euro kaum retten können. Die Antwort aus Deutschland darauf war etwas rätselhaft.
tagesschau.de: Und wer, würden Sie sagen, wird sich durchsetzen?
Krugman: Das ist die Eine-Billionen-Euro-Frage. Wir wissen es nicht. Es gibt zwei Szenarien: Entweder wird Deutschland zustimmen müssen, alle Mittel zu ergreifen, um den Euro zu retten. Oder aber man lässt den Euro scheitern. Beide Szenarien sind unrealistisch, und doch wird eines von beiden eintreten. Ich weiß nur nicht, welches. Niemand möchte derjenige sein, der den Euro scheitern lässt. Diese Angst kann eine wirksame Waffe sein, zum Beispiel für Draghi. Er kann den Deutschen sagen: 'Möchten Sie, Herr Weidmann, oder Herr Schäuble, die Person sein, die das europäische Projekt scheitern lässt?'
Zum Euro-Befürworter gewandelt
tagesschau.de: In den 90er-Jahren waren Sie einer der großen Euro-Skeptiker. Sie haben gesagt, wenn es keine "Vereinigte Staaten von Europa" gebe, dann sollte man auch keine gemeinsame Währung haben. Jetzt verteidigen Sie den Euro und möchten nicht, dass er scheitert. Warum hängen Sie so sehr an ihm?
Krugman: Da der Euro nun einmal eingeführt wurde, würde es nun massive Konsequenzen haben, wenn der Euro auseinander bricht - und das über viele Jahre hinweg. Die Menschen haben sich verschuldet - was wird aus diesen Schulden, wenn es keinen Euro mehr gibt? Starke Erschütterungen und wahrscheinlich eine schwere Rezession dürften die Folge sein, wenn der Euro scheitert.
Noch wichtiger aber ist: Bei dem "Projekt Europa" ging es stets um mehr als nur um Wirtschaftsfragen. Die wirtschaftliche Integration sollte doch im weiteren Sinne nur die Grundlage sein für eine engere politische Integration, für Demokratie und Frieden. Dieses "Projekt Europa" würde in Verruf geraten, wenn der Euro nicht überlebt. Wenn ich die Uhr auf 1992 zurückdrehen könnte, würde ich in den Saal in Maastricht eilen und sagen:'Tut das nicht!' Aber da der Euro nun einmal eingeführt worden ist, würde ich alles dafür tun, um ihn zu retten.
tagesschau.de: Aber möchten Sie nicht manchmal sagen: 'Ich habe Euch gewarnt, Ihr wolltet nicht auf mich hören - und jetzt habt Ihr die Bescherung'?
Krugman: Andere waren damals mit ihrer Kritik noch viel schärfer als ich. Natürlich würde ich als Wissenschaftler sagen: Unsere Voraussagen, dass der Euro als Einheitswährung nicht geeignet ist, haben sich also bewahrheitet. Aber es hat sich auch herausgestellt, dass noch viel mehr schief gehen kann, als wir dachten. Es ist schon frustrierend, weil die Risiken vor zwanzig Jahren doch ziemlich eindeutig waren. Die Entscheidung der europäischen Elite, die Warnungen zu ignorieren und sich nur auf das Positive zu konzentrieren, hat nun Konsequenzen. Aber das ist alles Vergangenheit. Die Frage ist nun: Was macht man jetzt? Ich glaube, es wäre ein schrecklicher Fehler, nicht alles zu versuchen, um den Euro zu retten.
Professor Paul Krugman gilt als einer der einflussreichsten Wirtschaftswissenschaftler der Gegenwart. Er lehrt an der Princeton University und erwarb sich zunächst einen Ruf als Außenhandelsexperte. Für seine Forschung auf diesem Gebiet wurde ihm 2008 der Wirtschaftsnobelpreis zuerkannt.
Der 59-Jährige beschäftigt sich zudem seit langem mit der Verschuldung der Staaten und Währungsfragen. Einer breiten Öffentlichkeit wurde er als scharfer Kritiker der Wirtschaftspolitik von Präsident George W. Bush bekannt. In seinem neuesten Buch "Vergesst die Krise! Warum wir jetzt Geld ausgeben müssen" beschäftigt sich Krugman mit der internationalen Finanzkrise.
tagesschau.de: Sie sagten unlängst, Spanien stehe sinnbildlich für die Euro-Krise. Meinen Sie, dass Spanien ein neues Rettungspaket braucht?
Krugman: Ein Rettungspaket wie Griechenland ist das, was Spanien am wenigsten braucht. Das hat den Griechen am Ende auch nicht viel geholfen. Das Problem Spaniens ist nicht seine Verschuldung - die ist gar nicht mal so hoch. Spanien hat aber eine irreale Wirtschaftsprognose, und die wiederum stellt ein großes Risiko für die Verschuldung dar. Das Land muss vor allem verhindern, dass die Zinsen in die Höhe schnellen. Es muss eine unmittelbare Kreditkrise vermeiden, und es braucht Hoffnung. Spanien muss ermöglicht werden, mit Exporten wieder auf die Beine zu kommen. Am Ende ist es in beiden Punkten auf die EZB angewiesen. Sie muss die Zinssätze in Grenzen halten, indem sie die Anleihen kauft. Und die EZB muss eine starke Expansionspolitik für ganz Europa betreiben - das gäbe Spanien die Möglichkeit, sich wieder aufzurappeln. Nur ein weiteres Darlehen an die spanische Regierung wird nicht helfen. Das haben wir schon gesehen, als die Märkte sich gegen Spanien gestellt haben, obwohl es ein erstes Darlehen zu einem niedrigen Zinssatz erhalten hatte.
tagesschau.de: Sehen Sie Griechenland in der Zukunft innerhalb der Euro-Zone?
Krugman: Das ist nur sehr schwer vorstellbar. Das Land ist tief verschuldet, und die Griechen haben ein Problem mit ihrer Glaubwürdigkeit, denn sie haben sich nicht korrekt verhalten. Obwohl sie seither enorme Anstrengungen unternommen haben, wird es sehr schwierig für sie sein, wieder auf die richtige Bahn zu kommen. Vielleicht gibt es eine Chance von zehn Prozent, dass sich ein Weg finden lässt, dass Griechenland in der Eurozone bleibt. Vielleicht aber wäre es für alle Beteiligten besser, wenn Griechenland aussteigen würde, auch wenn es anfangs sehr schmerzhaft sein wird. Doch da hören die Probleme ja nicht auf. Der Euro kann den Ausstieg eines kleinen Landes wie Griechenland, das von vorneherein nicht in der Eurozone hätte sein sollen, verkraften. Aber den Ausstieg Spaniens und Italiens kann der Euro nicht verkraften. Man muss also eine Brandmauer errichten, und das kostet sehr viel Geld.
tagesschau.de: Sie haben also die Hoffnung für Griechenland aufgegeben?
Krugman: Ich habe niemals wirklich geglaubt, dass Griechenland es schaffen würde. Von Anfang an sahen die Zahlen nicht danach aus. Ich stehe damit nicht allein da - viele von uns haben mittlerweile akzeptiert, dass Griechenland verloren ist - jedenfalls innerhalb der Eurozone. Um Griechenland im Euro zu halten, wären extreme Maßnahmen nötig, die kein Land leisten kann.
tagesschau.de: Wann, glauben Sie, wird der Austritt stattfinden?
Krugman: Sie sind dem Absturz sehr nah. Griechenland lebt jetzt sprichwörtlich von der Hand in den Mund. Sie sind abhängig von ständig neuen Krediten. Sie können also innerhalb weniger Wochen pleite gehen, falls die nächste Tranche des Kredits nicht freigegeben wird. Sobald die EZB den griechischen Banken kein Geld mehr leiht, könnte eine Bankenkrise entstehen: Die EZB akzeptiert keine griechischen Staatsanleihen mehr als Sicherheit. Das einzige Geld, das jetzt noch zur Verfügung gestellt wird, fließt an die griechische Nationalbank, die es an die Banken weiterleitet. Und wenn die EZB sagt, dass das nicht mehr geht, ist alles vorbei. Oder vielleicht halten sie noch ein paar Monate durch, und dann gibt es wieder Wahlen. Und dann werden die Wähler diese verheerende Politik den Parteien der Mitte zur Last legen und es kommt zu einer Koalition der Linken, was am Ende zu einem Ausstieg aus der Eurozone führen wird. Es würde mich wundern, wenn sie im kommenden Jahr noch in der Eurozone wären.
"Deutschland verdankt seine Stärke den Märkten Europas"
Verständnis für Merkels Dilemma
tagesschau.de: In Deutschland haben wir diesen einen entscheidenden Tag, den 12. September. Dann entscheidet das Verfassungsgericht über den ESM. Sind Sie damit vertraut? Und welchen Schritt sollte Frau Merkel jetzt tun?
Krugman: Ich habe große Sympathien für ihre Position. Ich glaube nicht, dass sie für die Krise verantwortlich ist. Merkel ist gefangen zwischen der erbarmungslosen Logik der Krise und der deutschen Politik. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder stimmt sie den Maßnahmen zu, die notwendig sind, um den Euro zu retten. Dann ist sie erledigt. Oder der Euro bricht zusammen - dann ist sie auch erledigt. Ich hoffe aber, dass sie einen Weg findet, um vor allem Draghi grünes Licht zu geben. Ich möchte aber auch nicht in der Haut des Bundesverfassungsgerichts stecken. Auch von den Richtern könnte es am Ende heißen, dass sie den Euro abgeschafft haben - und dafür will keiner die Schuld tragen müssen.
tagesschau.de: Sie haben Merkel scharf kritisiert, weil sie in der Krise einen Sparkurs eingeschlagen hat. Was wäre die Alternative?
Krugman: In Deutschland wird mehr über Sparmaßnahmen geredet, als in Wirklichkeit getan wird. Die Haushaltskürzungen in Deutschland sind relativ gering. Es ist mehr Rhetorik als Politik. Gemessen daran haben die USA sogar mehr Ausgaben gestrichen als Deutschland. Wir haben sehr viele öffentliche Angestellte entlassen, was Deutschland nicht gemacht hat. Aber dass die Deutschen überhaupt versuchen, zu einem Zeitpunkt, wo sich Europa in einer solchen Notlage befindet, ihr strukturelles Haushaltsdefizit zu verringern, ist eine der Hauptursachen für die Misere der europäischen Wirtschaft.
Der gesamte Rand leidet
tagesschau.de: Welche Länder leiden unter den deutschen Sparprogrammen und was sind die Konsequenzen daraus?
Krugman: Das zentrale Problem ist: Die Blase ist geplatzt, aber es gibt nicht die entsprechende Finanzpolitik, um das auszugleichen. All die Staaten an den Außengrenzen Europas - Spanien, Italien, Portugal, Griechenland, und zu einem gewissen Teil auch Irland und die baltischen Staaten - brauchen jemanden zum Exportieren. Sie brauchen eine stärkere Wirtschaft im Kern Europas. Da Deutschland aber vorsichtig und sparsam ist, macht man es ihnen unmöglich, sich selbst aus der Krise herauszuziehen.
tagesschau.de: Europa braucht also mehr Konjunkturprogramme?
Krugman: Denken sie doch an den Zustand Spaniens. Das Land ist der Kern des Problems. Spanien hat einen wirtschaftlichen Boom erlebt, der auf einer schnell wachsenden Immobilienblase basierte. Sie ist geplatzt, jetzt gibt es eine Massenarbeitslosigkeit. Woher sollen nun Arbeitsplätze kommen? Dazu ist ein Wandel erforderlich. Sie müssen ihre Handelsdefizite abbauen und sie müssen im Fertigungsbereich wachsen. Das geht nur über Exporte, weil die Inlandsnachfrage schwach ist. Aber woher sollen denn diese Exporte kommen - ohne eine sehr starke Wirtschaft in den umliegenden Ländern?
In gewisser Weise ist es amüsant, weil Deutschland so in seine heute einigermaßen gute Position gekommen ist. In den späten 90er-Jahren steckte Deutschland in einer Flaute. Dann entstand der Euro und es kam in den südlichen Ländern Europas zu einem großartigen Wachstum, was den deutschen Exporten half. So konnte Deutschland sich erholen. Obwohl das ohne den Boom in Südeuropa nicht möglich gewesen wäre, denkt Deutschland, es habe den Umschwung alleine geschafft. Nun müsste es umgekehrt laufen. Wir brauchen einen Boom in Nordeuropa, damit Südeuropa sich durch Exporte aus der Krise heraus stemmen kann. Deswegen ist der von Deutschland auferlegte Sparkurs ein großes Problem für Europa. Aber auch die EZB muss akzeptieren, dass sie eine wichtige Rolle spielt, wenn es darum geht, die europäische Wirtschaft zu einem Konjunkturaufschwung anzutreiben, der zumindest leicht inflationär ist.
Nicht nur die Märkte verantwortlich machen
tagesschau.de: Wie können die Politiker die Märkte zähmen?
Krugman: Ich habe diesbezüglich gemischte Ansichten. Die Bankgeschäfte müssen stärker reguliert werden. Die Idee einer Transaktionssteuer, mit der die heißen Gelder abgekühlt werden sollen, halte ich für nicht schlecht. Aber es wäre falsch, die momentanen Probleme Europas auf die verrückt spielenden Märkte zurückzuführen. Wenn die Märkte sich weigern, Griechenland Geld zu leihen, hat das einen guten Grund. Die Märkte haben schon lange vor den Politikern eingesehen, wie es um Griechenlands Erfolgschancen steht. Selbst im Fall von Spanien ist es nicht unangemessen, eine Risikoprämie zu verlangen, weil die Staatsanleihen möglicherweise einem "Schuldenschnitt" unterzogen werden könnten. Die europäischen Politiker neigen dazu zu sagen, dass die Märkte falsch liegen und dass ihre Politik auf dem richtigen Weg sei und funktionieren werde. Ich denke aber, dass es sehr einfach zu belegen ist, dass die Märkte in diesem Fall richtig liegen.
tagesschau.de: Warum scheuen europäischen Politiker die Auseinandersetzung mit der Finanzbranche?
Krugman: Ich glaube, europäische Politiker sind von der Finanzbranche nicht so beeinflusst wie amerikanische. Aber sie waren in keinerlei Hinsicht konsequent. Wieso sollten wir dann erwarten, dass sie in Bezug auf die Finanzindustrie konsequent sind? Ich habe an Treffen mit vielen Bankern von der Wall Street und aus London teilgenommen. Sie können sehr überzeugend und beeindruckend sein. Und selbst wenn man weiß, dass sie die Weltwirtschaft auf den Kopf gestellt haben, ist es sehr schwer, sich nicht von diesen cleveren, wohlgekleideten und reichen Menschen beeinflussen zu lassen.
Das Gespräch führte Anja Bröker, ARD-Studio New York