Interview "Gefahren für die Euro-Stabilität"
Deutschland und Frankreich haben sich im Kreis der Euro-Finanzminister durchgesetzt: Die Defizitverfahren, die gegen beide Staaten laufen, werden nicht verschärft. Was bedeutet das für den Stabilitätspakt und das Verhältnis zwischen den EU-Staaten? tagesschau.de hat darüber mit dem Politikwissenschaftler Professor Wichard Woyke von der Uni Münster gesprochen.
tagesschau.de: Ist der Stabilitätspakt nach dem Aussetzen des Defizitverfahrens gegen Deutschland und Frankreich tot?
Prof. Wichard Woyke: Nein, tot ist er auf keinen Fall, aber er hat zumindest seine Abschreckungsfunktion etwas eingebüßt. Mittelfristig hat er sie aber sicher noch, denn es ist nach wie vor für jeden Finanzminister wichtig zu begründen, warum er überschuldete Haushalte fahren will. Auch in Zukunft wird die Verschuldung immer am Drei-Prozent-Kriterium gemessen werden.
tagesschau.de: Macht der Stabilitätspakt auch in Zeiten schlechter Konjunktur noch Sinn?
Woyke: Grundsätzlich ist der Stabilitätspakt eine richtige Maßnahme. Er hat dazu beigetragen, dass die Gemeinschaftswährung in Kraft treten konnte und er hat andere Staaten - gedacht war ja damals an Kandidaten wie Italien, Spanien oder Portugal - von einer überhöhten Verschuldung abgehalten und sie dazu gebracht, sich für die dritte Stufe der Währungsunion zu qualifizieren. Im Zeitalter einer drei Jahre andauernden Wachstumshemmung zeigen sich aber die Grenzen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, weil er bei strikter Anwendung eben die Konjunktur tatsächlich bremst.
tagesschau.de: Nun waren die Defizitsünder zwei große EU-Staaten. Wäre die Entscheidung der Finanzminister der Euro-Gruppe genauso ausgefallen, wenn kleinere Länder - wie etwa Portugal, die Niederlande oder Griechenland - gegen das Defizit-Kriterium verstoßen hätten?
Woyke: Das führt in den Bereich der Spekulationen, aber die Wahrscheinlichkeit ist meines Erachtens sehr groß, dass man bei diesen kleinen Ländern doch eher einen anderen Beschluss gefasst hätte. Dafür spricht auch eine Plausibilitätsannahme. Ich erinnere mich: Als vor zwei Jahren blaue Briefe verteilt werden sollten, hat Portugal einen blauen Brief erhalten. Der deutsche Bundeskanzler hat sich im Ministerrat der Europäischen Union massiv gewehrt und Deutschland bekam damals keinen blauen Brief. Ein ähnliches Verhalten könnte man sich heute vorstellen.
tagesschau.de: Was bedeutet das für das gelegentlich ohnehin angespannte Verhältnis zwischen großen und kleinen EU-Staaten?
Woyke: Wir haben im Rahmen der Verhandlungen über die europäische Verfassung mehrere Konfliktlinien. Kleine gegen Große ist eine davon, und diese Konfliktlinie wird durch die Entscheidung von heute verstärkt. Das heißt aber nicht unbedingt, dass das so bleiben müsste. Diese Entscheidung bedeutet aber natürlich einen Präzedenzfall, auf den sich die kleinen Staaten berufen könnten, wenn sie in ökonomische Schwierigkeiten geraten sollten. Die Kleinen könnten sagen: Wenn Deutschland und Frankreich das können, dann können wir das auch.
tagesschau.de: EU-Finanzkommissar Solbes behält sich nach der Entscheidung von heute weitere Schritte vor. Welche Möglichkeiten hat er?
Woyke: Grundsätzlich besteht die Möglichkeit - und das ist die letzte und schärfste Möglichkeit, die ich sehe - dass die Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof gegen den Rat in Bezug auf diese Entscheidung klagen könnte. Allerdings sehe ich das als wenig erfolgversprechend an, da ja vom Buchstaben des Vertrages her durchaus formal der Ordnung Rechnung getragen wurde.
Allerdings widerspricht die Entscheidung dem bisher geprägten Geist des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Einer der Väter des Paktes, Theo Waigel, hat immer wieder gesagt, dass 3,0 ein Kriterium ist, das einzuhalten ist und das nicht 3,1 und noch höher heißt. Auch nachfolgende Finanzminister aus EU-Staaten, selbst Herr Eichel, haben den Pakt immer wieder in diese Richtung interpretiert und verkauft. Vor diesem Hintergrund war der Euro - abgesehen von einer kurzen Phase - immer eine recht starke Währung. Mittelfristig lauern hier Gefahren für die Stabilität des Euros.
Das Interview führte Holger Schwesinger, tagesschau.de