Öffentlicher Dienst 4,8 Prozent trotz leerer Kassen?
Kita-Mitarbeiter, Pfleger, Müllwerker: Um sie geht es bei den Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst. Die Gewerkschaften fordern 4,8 Prozent. "Völlig überzogen", sagen Arbeitgeber. Wie soll da eine Einigung gelingen?
Die Vorzeichen für die heute startenden Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst sind alles andere als günstig. Denn die Forderungen beider Seiten liegen weit auseinander. Auf jeden Fall droht eine ungemütliche Tarifauseinandersetzung.
Um wen geht es in der Verhandlung?
2,3 Millionen Tarifbeschäftigte sind direkt von dem Verhandlungsergebnis betroffen. Unter anderem Kita-Erzieherinnen, Müllwerker, Busfahrer oder Flughafen-Mitarbeiter. Auf mehr als 200.000 Beamte soll das Ergebnis übertragen werden, so die Gewerkschaften.
Wer verhandelt?
Die Gewerkschaft ver.di und der Beamtenbund dbb vertreten die Interessen der Arbeitnehmer. Ihnen gegenüber sitzen Vertreter der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) und des Bundes.
Was fordern die Gewerkschaften?
4,8 Prozent mehr Lohn bei einer Laufzeit von zwölf Monaten fordern die Gewerkschaften. Kleine Einkommen sollen um mindestens 150 Euro steigen. Steigen sollen auch Ausbildungs- und Praktikantenentgelte - um 100 Euro monatlich. Gefordert wird außerdem die Senkung der Arbeitszeit im Osten um eine Stunde auf 39 Stunden wie im Westen. Für das Gesundheitswesen und die Pflege sollen besondere Verbesserungen erreicht werden.
Welche Position vertreten die Arbeitgeber?
Für die Arbeitgeber sind diese Forderungen "völlig überzogen". Laut VKA zeigen sie, "dass die Gewerkschaften den Ernst der Lage offensichtlich nicht erkannt haben - und das in der schlimmsten Rezession seit Gründung der Bundesrepublik", sagt der VKA-Präsident und Lüneburger Oberbürgermeister Ulrich Mädge (SPD). Die Kassen seien leer. Es gebe nichts zu verteilen. Die Umsetzung der Forderungen würde laut übereinstimmender Angaben rund sechs Milliarden Euro kosten.
Der Präsident des Deutschen Landkreistags, Reinhard Sager, bezeichnete es als "unverantwortlich", wenn in Zeiten von Steuerausfällen und Paketen zur Krisenbewältigung Milliardenforderungen an Landkreise, Städte und Gemeinden gerichtet würden. "Wenn die Gewerkschaftsseite nicht grundlegende Bewegung an den Tag legt, werden das ausgesprochen schwierige Tarifverhandlungen", warnt Sager.
Ein Arbeitgeberangebot ist üblicherweise erst zur dritten Tarifrunde im Oktober zu erwarten.
Welche Rolle spielt die Corona-Pandemie?
Viele Beschäftigte erwarten laut ver.di und dbb, dass ihr Einsatz in der Krise honoriert wird. Das gelte besonders für die Berufsgruppen, die in der Pandemie besonders belastet waren - etwa Pflegekräfte und Ärzte, Kita-Erzieherinnen oder auch Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit, bei denen massenhaft Überstunden zur Bearbeitung von Kurzarbeitergeld-Anträge anfielen. "Für die Einnahmeausfälle durch den Corona-Lockdown gibt es umfangreiche Ausgleichszahlungen des Bundes", sagt dbb-Chef Ulrich Silberbach. Deshalb sieht er Spielraum für eine Lohnerhöhung.
Wie wahrscheinlich sind Streiks?
Warnstreiks mit öffentlich sichtbaren Protesten als Druckmittel werden wegen der Abstands- und Hygieneregeln erschwert. Auf Großkundgebungen unter Pandemiebedingungen will ver.di-Chef Frank Werneke verzichten. Aber auch mit 1,5 Meter Abstand könne protestiert werden. Und Arbeitsniederlegungen könne es ohnehin geben. "Das Wesen des Streiks ist, dass man nicht arbeitet. Das kann in verschiedenen Formationen stattfinden." Gleichzeitig betont er, keine Eskalation anzustreben. Dies setze aber voraus, "dass wir früh ein Angebot bekommen, das einigungsfähig ist", sagte er im ARD-Morgenmagazin. "Falls es anders kommt, sind wir natürlich auch in der Lage zu streiken."
Wie war der vergangene Tarifabschluss?
2018 hatten sich beide Seiten auf eine Lohnerhöhung um 7,5 Prozent für die Beschäftigten bei Bund und Kommunen geeinigt.
Damals saßen sich zwei alte Bekannte gegenüber: die langjährigen und über die Zeit befreundeten Chefs von ver.di und VKA, Frank Bsirske und Thomas Böhle. Damals war Innenminister Horst Seehofer als Spitzenvertreter des Bundes noch Tarifneuling. In diesem Jahr kommt es zu einer neuen Konstellation, wenn sich der neue ver.di-Boss Werneke und VKA-Vertreter Mädge gegenüber sitzen.
Thomas Böhle, Horst Seehofer und Frank Bsirske nach den Tarifverhandlungen 2018.
Gibt es besondere Anliegen von Krisenbranchen?
Vor allem das Flughafenpersonal ist laut ver.di dringend auf eine Einigung angewiesen. Hier wird ein Sanierungs- oder Notlagentarifvertrag angestrebt. 80 Prozent der Betroffenen seien in Kurzarbeit - ohne Tariflösung drohten Kündigungen in großem Umfang.
Worum geht es außer dem Einkommen?
Um vergleichsweise wenige Punkte, das könnte die Verhandlungen vereinfachen. An der Einstufung der schier unzähligen Berufe und Erfahrungsstufen in die einzelnen Gehaltsgruppen soll sich nur wenig ändern.
Wann ist mit einer Einigung zu rechnen?
Das lässt sich schwer vorhersagen. Beobachter rechnen wegen der unterschiedlichen Interessen beider Seiten aber damit, dass es in die Verlängerung gehen könnte. Heißt: Wahrscheinlich müssen sich die Verhandlunspartner nach dem für Ende Oktober angesetzten dritten Verhandlungstermin ein Scheitern eingestehen und einen unabhängigen Schlichter hinzuziehen.